Das Paradies auf Erden
von Erich Hackl
EUR 22,00 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 30,90 (CH)
Es gibt einiges, was man am Debütroman des gebürtigen Tirolers Andreas Pavlic, der seit langem in Wien lebt, bekritteln könnte. Sprachliche Unstimmigkeiten in vielen Sätzen; weitschweifige Abhandlungen dort, wo Knappheit angebracht wäre; das jähe Verschwinden von Personen, die der Autor zu Beginn der Handlung eingeführt hat und deren Lebensweg man gern weiterverfolgen würde … Es kracht also gehörig in den erzählerischen Scharnieren, aber das tut der Freude des Lesers keinen Abbruch, sowohl die »Erinnerten« als auch denjenigen kennenlernen zu dürfen, der sich ihrer erinnert. Das liegt vor allem an der kühnen Komposition, mit der Pavlic die Liebes- und Lebensgeschichte eines Innsbrucker Arbeiterpaares von den dramatischen Umständen der ersten Begegnung im Mai 1932 – mitten in einer als »Höttinger Saalschlacht« bekannt gewordenen Schlägerei mit Nazis – bis zur Befreiung der Stadt 13 Jahre später mit den Reflexionen des Sohnes verbindet. Dieser wurde am ersten Tag in Freiheit gezeugt und denkt nun im Grab, als Toter, darüber nach, warum das Wissen um die Ereignisse, die in die Lebenszeit seiner Eltern – und seine eigene – fallen, unabdingbar ist, um sich in der Gegenwart unter widrigen politischen Verhältnissen zu behaupten.
Keinen von den dreien – Mutter, Vater, Sohn – eignet ein Verhalten, das man als ungewöhnlich oder gar heldenhaft bezeichnen könnte. Die Eltern – das Stubenmädchen Annemarie, der Tischler Johann – bringen zwar Sympathien für den Kommunismus auf und sind begierig, mehr über die Sowjetunion in Erfahrung zu bringen, die speziell Annemarie als verlockendes Märchenland erscheint, begeistern sich jedoch eine geraume Zeit hindurch für die Aufmärsche und sozialen Versprechungen der Nazis, ehe sie sich mehr aus Instinkt denn aus Einsicht von ihnen distanzieren. In den turbulenten letzten Tagen vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen finden sie zu einem Patriotismus, der nicht rückwärtsgewandt ist, sondern zukunftsfrohe und durchaus klassenkämpferische Züge aufweist. Als hätten nicht Legionen von Historikerinnen das Gegenteil behauptet, ist Pavlic davon überzeugt, dass es, abgesehen von den Widerstandskämpfern, Österreicherinnen gab, von denen die Befreiung 1945 tatsächlich als befreiend empfunden wurde. Ihre Begeisterung war nicht geheuchelt, ihre Zuversicht durchaus kein Lippenbekenntnis, mit dem das Mitläufertum ungeschehen gemacht werden sollte.
Bemerkenswert ist die Empathie, die Pavlic den handelnden Personen entgegenbringt. Er nimmt sie ernst, erweist sich als nachsichtig gegenüber ihren Fehlern und Halbheiten, korrigiert oder kommentiert ihr Verhalten nicht besserwisserisch, sondern gesteht ihnen das Vermögen zu, ihre lange Zeit ziellosen und widersprüchlichen Träume mit den Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zu fast allen Schriftstellerkollegen, die sich am gleichen Thema versucht haben, kommt ihm nicht in den Sinn, ihr Leben durch die Misslichkeiten zu entwerten, unter denen es sich entfalten musste. Was einen aber am meisten für die »Erinnerten« einnimmt, ist die Hoffnung, ja die Überzeugung ihres Sohnes, dass alles, was sie und er zu Lebzeiten getan, gedacht, erträumt haben, nicht verloren ist. Dass ihre Hoffnungen sich eines Tages erfüllen werden. »Vielleicht muss man alles von den Gräbern her betrachten, um zu leben und um doch eines Tages das Paradies auf Erden zu erlangen. Probiert es. Ich wünsch es euch.«
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