Paranoider Realismus
von Simon Nagy
EUR 22,70 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 29,50 (CH)
Die »rote Pille« hat ihren Weg aus den Matrix-Filmen in die Rhetorik der Alt-Right-Bewegung gefunden. Sie gilt dort als metaphorisches Tool, denen, die sie geschluckt haben, eröffnet sie den Zugang zur Realität – den Ausbruch aus der uns vermeintlich alle umgebenden Simulation.
Hari Kunzrus Roman Red Pill setzt sich mit der Rolle des Realismus in diesem (neu-)rechten Denken auseinander. Sein Protagonist ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, der sich von einem Schreibaufenthalt am Wannsee Konzentration für die eigene Arbeit verspricht. In der renommierten Residency findet er allerdings kein abgeschiedenes Arbeitszimmer vor, sondern eine Art Großraumbüro der kulturellen Elite, das er sich mit den anderen Gästen teilen soll. Dort werden ihre Arbeitsstunden, aufgerufenen Webseiten und Tastenanschläge gemessen, auf deren Grundlage Produktivitätsprotokolle erstellt werden. In diesem Setting des panoptischen Kreativkapitalismus entwickelt der Protagonist eine Unfähigkeit zu arbeiten und immer stärkere Ängste, permanent beobachtet zu werden. Anstatt zu schreiben, wandert er zum nahegelegenen Grab von Heinrich von Kleist, taucht in dessen Proto-Incel-Literatur ein und spricht mit einer Reinigungsarbeiterin der Residency, die von ihrer Vergangenheit als Stasispitzel und zugleich Bespitzelte erzählt. Den Roman durchzieht eine Genealogie der Paranoia.
Paranoia tritt noch in einer weiteren Form auf, und zwar als die selbstbewusst zur Schau getragene Weltsicht der sogenannten Neuen Rechten. Ins Unheimliche beginnt der Roman abzugleiten, als Anton auftritt, Drehbuchautor einer erfolgreichen Polizeiserie, der seine Bekanntheit dazu nutzt, diverse rechtsextreme Online-Communities zu befeuern. Nach ihrer ersten Begegnung wird der Protagonist wie besessen von Anton und stürzt sich in das wohlbekannte rabbit hole: in die Tiefen der von Anton mitgestalteten Internetforen, wo in wilden Wahlverwandtschaften nordische Mythologie, Verschwörungsideologien und die stetige Produktion neuer faschistischer Memes zusammenlaufen.
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