Eskalation in Osteuropa

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 2, Februar 1982


458 wörter
~2 minuten

Die ersten Wochen des Jahres 1982 waren medial von einem Thema beherrscht: die Verhängung des Kriegsrechts in Polen nach dem Militärputsch vom 13. Dezember 1981 unter der Führung des Generals Wojciech Jaruzelski. Dessen Ziel war es vor allem, der zunehmenden Stärke der freien Gewerkschaft Solidarność einen Riegel vorzuschieben. Das Wiener Tagebuch, nicht zuletzt ein Produkt des Prager Frühlings und seiner Niederschlagung, berichtete regelmäßig über das staatssozialistische Osteuropa, insbesondere über dissidente Regungen. Zur »Polen-Krise« nahm im Februar 1982 auch Zdeněk Mlynář Stellung, ein hochrangiger vormaliger Exponent des Prager Frühlings, der im Wiener Exil lebte. Er gilt als einer der Hauptautoren des Aktionsprogramms der KPTsch vom April 1968. Interessant an Mlynářs Einschätzung ist vor allem die Tonlage. Er macht deutlich, dass sich jene osteuropäische Politikergeneration, die in den 1960er Jahren noch an eine gewandelte Sozialismusoption geglaubt hatte, Anfang der 1980er von solch einer Perspektive bereits mehrheitlich und grundlegend abgewandt hatte.

Zdenek Mlynar

Möglichkeiten und Folgen der »Normalisierung« in Polen

»Der Streit über die Möglichkeiten einer Demokratisierung des sozial-politischen Systems in Polen ist nun entschieden: das letzte Wort hatte wieder die Militär- und Polizeimaschinerie des Sowjetblocks, ähnlich wie schon 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Daß die exekutierende Hauptkraft diesmal polnische Militär- und Polizeieinheiten und nicht sowjetische waren, ist zwar neu, ändert aber nichts am Wesen der Sache. 

[...]

Die KP Italiens hat durch den Mund Enrico Berlinguers genügend klar zum Ausdruck gebracht, daß es heute in Polen um mehr geht als um eine Entwicklungs-Episode; es geht darum, daß der ›reale Sozialismus‹ sich definitiv als System erwiesen hat, das den Zielen der sozialistischen Bewegung widerspricht [...]. [...] Zum Unterschied von den italienischen Kommunisten haben jedoch einige politisch einflußreiche Strömungen Westeuropas ihre Haltung zu den polnischen Ereignissen noch nicht auf Grund einer nüchternen Analyse festgelegt. Das gilt vor allem von der starken Friedensbewegung besonders in der Bundesrepublik [Deutschland] [...]. Es geht um die Frage, wo überall in Europa Pulverfässer angehäuft sind und zwar nicht nur in Gestalt von Raketen und Waffen, sondern auch in Form von Militär- und Polizeidiktaturen über Menschen.

[...]

Wenn aber mit der polnischen Militärdiktatur im ganzen Sowjetblock eine Militarisierung [...] eingesetzt hat und damit die Unfähigkeit der sowjetischen Systeme zur Änderung ihres totalitären Machtcharakters noch größer wird, dann wird dies alles sehr bald auch zu einer Änderung der gesamt-europäischen Situation führen.

[...]

[Diese Entwicklung] ist in Polen, der Tschechoslowakei, der DDR und Ungarn nur deshalb möglich, weil sich diese Staaten in der eisernen Umklammerung des Warschauer Pakts befinden: wenn diese Länder auch nur ein Mindestmaß an Souveränität besäßen, welches sie vor fremden militärischen Eingriffen schützt, wäre die Lage in diesen Ländern eine andere.«
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