»Wer sollte sich nicht freuen, wenn ein Oligarch sanktioniert wird?«

von David Mayer

Fotos: Christopher Glanzl

Elisabeth Schimpfössl ist Russlandexpertin und auf Elitenforschung spezialisierte Soziologin. Ein Gespräch über die halbherzigen Maßnahmen des Westens gegen russische Oligarchen und darüber, warum es nicht gewünscht ist, deren Vermögen anzutasten.


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David Mayer | Du hast in den letzten Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sanktionen gegen Angehörige der russischen Oberschicht, so wie sie in den ersten zehn Tagen des russischen Krieges gegen die Ukraine gesetzt wurden, wenig effektiv, ja ein »Witz« seien. Was bedeuten die bisherigen Maßnahmen gegen Russland wirklich für die russischen Eliten?

Elisabeth Schimpfössl | Zunächst muss man festhalten, dass die bisherigen Maßnahmen gegen russische Oligarchen nur ein Teil der Wirtschaftssanktionen gegen Russland insgesamt sind. Die Sanktionen sind problematisch und umstritten, wie es solche Maßnahmen immer sind: Abgesehen davon, dass sich zumindest die EU bis jetzt einen finanziellen Kanal für die Bezahlung der Gas- und Öllieferungen offen gehalten hat und damit ihre eigenen Sanktionen unterläuft, besteht die Gefahr, dass diese Sanktionen vor allem die breite Bevölkerung treffen und zu ihrer weiteren Verarmung beitragen. 2014, nach der Annexion der Krim und in Reaktion auf die erste Welle der Sanktionen des Westens, ist es Putin bemerkenswert gut gelungen, propagandistisch einen patriotischen, antiwestlichen Schulterschluss herzustellen. Das wird in der jetzigen Situation freilich kaum so leicht gehen.

Was Sanktionen gegen Oligarchen betrifft, so war die Stimmungslage in der russischen Bevölkerung schon immer umgekehrt: Wer sollte sich in der russischen Bevölkerung nicht freuen, wenn ein verhasster Oligarch sanktioniert wird?

DM | Und wie sind die Sanktionen mit Blick auf den Westen zu interpretieren?

ES | Nachdem man die Reichen Russlands über Jahre hofiert und mit ihnen samtgebettete Beziehungen gepflegt hat, wurde die Bereitschaft zu spezifisch gegen russische Eliten gerichteten Sanktionen tatsächlich feststellbar und manch starke symbolische Geste gesetzt: Die Bilder beschlagnahmter millionenschweren Jachten etwa waren besonders geeignet, um so etwas wie Entschlossenheit zu zeigen.

Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Maßnahmen jedoch als selektiv und halbherzig – das heißt, sie treffen nur bestimmte Personen, vorwiegend Putin-Freunde, deren Reichtum erst dank ihres Naheverhältnisses zu ihm zustande gekommen ist. Die meisten anderen, darunter gerade jene, deren Sanktionierung am schmerzhaftesten und daher potenziell am effektivsten wäre, sind davon nicht betroffen. Gerade in Großbritannien wirken sie wie reine Symbolpolitik, um die Bevölkerung milde zu stimmen. Zudem steht den russischen Superreichen genauso wie den Superreichen des Westens ein Weltfinanzsystem zur Verfügung, das es mithilfe einer Armada westlicher Berater und Beraterinnen erlaubt, Vermögen offshore dem Zugriff zu entziehen – siehe Paradise Papers. Die bisherigen Maßnahmen müssen für diese Leute also als durchaus verkraftbar gelten.

Schmerzhafter ist da schon, dass man droht, ihnen die Welt zu entziehen, also ihre privatjetbasierte Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit einzuschränken. Begrenzte Bewegungsfreiheit ist für alle ein scharfer Einschnitt in die Lebensqualität. Für die typischen Oligarchen ist diese Beeinträchtigung viel umfassender. Denn sie führen strukturell eine Art Doppelexistenz: Auch jene, deren Reichtum vorwiegend auf die Privatisierungen in den 1990er Jahren unter Jelzin zurückgeht, sind nach wie vor von ihren russischen Großunternehmen abhängig. Diese Oligarchen sind auf die Einbettung in Russlands Politik und Ökonomie angewiesen und brauchen zugleich ein westliches Standbein, nicht nur aus Prestigegründen, sondern weil es ihnen Sicherheit gegenüber den Unwägbarkeiten und Risiken in Russland gibt. Das heißt, sie wollen nicht zur Gänze von Putin und dem Kreml abhängig sein. Das hat Folgen für so grundlegende Dinge wie Rechtsstreitigkeiten, die ja unter Vermögenden und Superreichen Alltag sind. So hat ein Gutteil der Oligarchen London als Ort für die Schlichtung intraoligarchischer Dispute auserkoren, Putin-Freunde inkludiert. Niemand von diesen Leuten würde sich einem russischen Gericht unterwerfen und schon gar nicht Putins Launen und Willkür völlig ausgeliefert sein wollen. Das ist nebenbei ein Riesengeschäft für Londoner Kanzleien und Berater. Die meisten Oligarchen leben seit Jahren in gewisser Weise teil-extraterritorial, und die jetzigen Sanktionen, so lau sie auch sein mögen, bedrohen diese soziale Existenzweise.

DM | Wie wichtig ist die Unterstützung der Oligarchen für Putins Herrschaft, welche Elitenallianz macht Russland heute aus?

ES | Putin hat es in den letzten 20 Jahren geschafft, die verschiedenen Machtinteressen in Russland auszubalancieren, und bis jetzt ist kein Kandidat aufgetaucht, der oder die das genauso gut könnte. Grob vereinfacht existieren in Russland als entscheidende Machtgruppen das Militär, die Geheimdienste, die politische Elite samt den vom Kreml eingesetzten Staatsunternehmern sowie die Oligarchen. Jede dieser Gruppen hat wiederum unterschiedliche Unterfraktionen. Das wird besonders bei den Oligarchen deutlich, da gibt es große Unterschiede je nach Branche, aber auch je nachdem, in welchem Maße diese vom Kontakt zu und Austausch mit dem Westen abhängig sind. Es gibt mittlerweile auch mehrere Oligarchen-Generationen: jene, die in den »wilden 1990ern« zu Reichtum kamen, und andere, die unter Putin aufgestiegen sind. Superreich geworden sind in den letzten Jahren auch manche dank der veränderten Wirtschaftsstrukturen, vor allem in der Landwirtschaft. Diesen neuen Milliardären kam zugute, dass Russland infolge der durch die Krim-Annexion ausgelösten Sanktionen stärker auf eine Versorgung aus dem Binnenmarkt heraus setzen musste.

Zugleich schließe ich mich jenen an, die meinen: Wenn ein ausreichend großer Teil dieser Oligarchen derart unter Druck gesetzt wird, dass ihre ureigenen Interessen tangiert werden und sie keinen Weg mehr über die vielen Ausweichrouten des internationalen Finanzsystems sehen, dann könnte ein wichtiger Pfeiler von Putins Machtallianz und damit seiner Kriegspolitik wegbrechen. Rein machtpolitisch sitzt Putin noch am längeren Hebel. Aber er kann es sich nicht leisten, die Loyalität dieser Gruppe gänzlich zu verlieren, auch mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2024, sofern diese überhaupt noch stattfinden.

»Grundsätzlich unterscheidet sich diese Art von Oligarchen nicht von Superreichen im Westen. sie sind eng mit Staatsstrukturen und politischer Macht verwoben, weisen zugleich aber wegen ihrer Stärke eine partielle Unabhängigkeit gegenüber dem Staat auf.«

DM | Hast du den Eindruck, dass es unter diesen Oligarchen welche gibt, die mit dem ideologischen Leitbild des jetzigen Krieges mitgehen, so wie Putin es in den Reden vor dem 24. Februar formulierte? Da ging es ja nicht nur um Geopolitik, sondern um mehr – um eine imperiale manifest destiny und einen russischen Führungsanspruch.

ES | Ja und nein. In den letzten 15 Jahren zeigten sich manche Oligarchen dem Russisch-Orthodoxen, patriotischen Ideologien oder Ideen einer zu stärkenden russischen Zivilisation zugeneigt. Aber das waren und sind verhältnismäßig »kleine« Fische, also nur »einfache« Milliardäre, die ihren Aufstieg direkt Putin zu verdanken haben. Die Brüder Rotenberg oder Jewgeni Prigoschin wären da Beispiele.

Insgesamt aber bin ich in meiner Forschung auf keinen Oligarchen getroffen, dessen Ideologie wirklich »unabhängig« von den eigenen Interessen gewesen wäre. Es handelt sich in diesem Sinne um astreine Kapitalisten. Nehmen wir etwa Pjotr Awen, der mittlerweile unter EU- und US-Sanktionen steht – in Großbritannien blieb er lange unbehelligt, ist aber inzwischen auch eine Persona non grata. Mit seiner Kunstsammlung war er jahrelang das Liebkind der westlichen Presse. Die Ideologien, die sich solche Leute wie Awen durch und durch zu eigen gemacht haben, sind jene der radikalen Marktreformen, der Milton-Friedman-Schule, des schocktherapeutischen Neoliberalismus. Stark präsent ist bei ihnen die Idee, dass man die chilenischen »Reformen« unter Pinochet als Vorbild nehmen könnte. Wie Einblicke ins Pressearchiv zeigen, hat Putin Anfang der 1990er Jahre als Vizebürgermeister von Sankt Petersburg übrigens eine ähnliche Bewunderung für die chilenische Militärdiktatur geäußert. Awen wollte noch in den frühen 2000er Jahren, dass Putin möglichst radikale Marktreformen vorantreibt, wenn nötig mit autoritären Maßnahmen. Auch in einem Interview, das ich mit ihm im Jahr 2015 führte, hielt er daran fest, dass so eine Politik prinzipiell richtig sei. Mittlerweile hat er aber den Glauben daran abgelegt, dass die russische Bevölkerung für solche Maßnahmen ausreichend »entwickelt« ist. Awen ist in sozialer Hinsicht, aber auch seinen Haltungen nach durchaus repräsentativ für die Schwergewichte der Oligarchen wie Wladimir Potanin, Oleg Deripaska oder Michail Fridman. Und um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Sie alle sind mittlerweile zu mächtig und damit in einem relativen Sinne zu unabhängig, um Putin ideologisch sekundieren zu müssen.

DM | Was unterscheidet eigentlich den russischen Oligarchen von einem westlichen Bourgeois?

ES | Die erste Beobachtung wäre, dass man in den letzten Jahren eigentlich kaum noch von Oligarchen gesprochen hat – sowohl in Russland als auch im Westen. Der Begriff ist erst in den letzten Wochen mit plötzlicher Heftigkeit wieder auf die mediale Bühne des Westens zurückgekehrt.

Eine verbreitete Definition beschreibt die Oligarchen als eine Gruppe, die einen derartigen Vermögensstand und eine Größe erreicht hat, dass sie sich nicht mehr vollständig dem »ideellen Gesamtkapitalisten« in Form des Staates unterwerfen muss. Das heißt zum Beispiel, dass sie in der Lage – und im Notfall auch willens – ist, relativ direkt die staatlichen Geschäfte zu übernehmen. Diese Bereitschaft trifft in Russland freilich nur auf die 1990er Jahre zu. Putin hat den »ideellen Gesamtkapitalisten« wieder etabliert. Was aber geblieben ist, ist diese partielle Unabhängigkeit der großen Oligarchen ob ihrer schieren Kapitalmacht. Diese sind Putin aber keineswegs so nah wie seine engen Freunde aus den Jugendjahren, wie die Rotenbergs, oder ihm nahestehende Vertraute aus Sankt Petersburger Zeiten, denen er zu Reichtum und in höchste Ämter verholfen hat. Beispiele hierfür wären etwa Igor Sechin oder Alexei Miller.

Grundsätzlich unterscheidet sich aber diese Art von hyperreichen Kapitalisten, die eng mit Staatsstrukturen und politischer Macht verwoben sind, zugleich aber wegen ihrer Stärke eine partielle Unabhängigkeit gegenüber dem Staat aufweisen können, nicht von Superreichen im Westen.

DM | Du hast in deinem Buch über Rich Russians Selbstbild und kulturelle Orientierung der russischen Oberschicht genauer untersucht – was charakterisiert diese Milieus?

ES | Zunächst war interessant, wie ähnlich sich neue russische und etablierte westliche Bourgeoisie in vielem sind. Hier sieht man in Russland eine Parallele zu den USA Ende des 19. Jahrhunderts, als im »Gilded Age« Unternehmer wie Rockefeller, Carnegie oder Vanderbilt in kurzer Zeit zu Tycoons aufstiegen – oftmals mit brutalen und dubiosen Methoden; heute zieren ihre Namen Museen und Stiftungen, werden also mit hehren zivilisatorischen Werten assoziiert.

Es gibt aber auch wichtige Unterschiede zwischen russischen Oligarchen und westlichen Großkapitalisten. Das betrifft vor allem ihren Ursprung: Die meisten der heutigen Oligarchen Russlands stammen aus der Intelligenzija der späten Sowjetunion, also aus Familien mit vielen Wissenschafterinnen oder akademisch ausgebildeten Technikern. Das schlägt sich im »Ideologiemix« nieder, der mir bei den Interviews mit Vertretern der russischen Oligarchie begegnet ist. Neben den erwähnten marktradikalen und neoliberalen Überzeugungen kann man bei vielen einen positiven Bezug auf die Sowjetunion, insbesondere auf die sowjetischen Bildungs- und Wissenschaftsideale heraushören. Ihren eigenen Aufstieg glauben sie, unter anderem diesem Fundament zu verdanken. Dazu gehört ein gewisser Stolz: Wir als relativ junge Bourgeoisie kultivieren eine aufgeklärte Bildungsorientierung besser als die heute oft auffällig ungebildeten Vertreter der westlichen Bourgeoisie.

Ein weiteres häufiges Element in den Narrativen, mit denen diese Oligarchen ihre eigene Position und ihren Werdegang erklären, ist gleichzeitig ein unverblümter Sozialdarwinismus: Sie sprechen sich viel offener, als man sich das heute im Westen erlauben könnte, eine genetische Überlegenheit gegenüber anderen Menschen zu.

DM | Wie siehst du das Verhältnis dieser russischen Hochbourgeoisie zum Westen?

ES | Wie schon gesagt, es gibt strukturelle Gründe für die Verwobenheit von russischen Oligarchen und westeuropäischen Eliteangehörigen in Staat und Wirtschaft. Das Kapital, das in Russland akkumuliert wird, wird im Westen geparkt. Die Vertreter der russischen Oligarchie müssen sozial eine Doppelexistenz führen, weil die Unsicherheit in Russland letztlich zu groß ist. Zum guten Ton unter russischen Oligarchen gehört ein ausgeklügelter Evakuierungsplan, mit dem man innerhalb kurzer Zeit mitsamt Familie und Haushalt in ein anderes Land übersiedeln kann. Wenig überraschend hat Russland eine der weltweit höchsten Offshore-Quoten von Vermögen, man spricht von 50 bis 75 Prozent.

Viele Akteure und Regierungen im Westen haben sich in der Vergangenheit den Oligarchen gerne angedient – Österreich ist sicher ein markantes Beispiel dafür. Nichts übertrifft jedoch London, das zurecht häufig als Welt-Geldwäsche-Zentrum genannt wird. Es hat sich als umfassendes Dienstleistungscenter für diese Art von Kapital etabliert. Die Berater, Agenturen und Kanzleien, die hier Dienste anbieten, stellen eine hochspezialisierte Industrie mit vielen Tausend Mitarbeiterinnen dar. Dies alles gefördert und gewollt von der britischen Politik – deren systemische Struktur bestens dafür geeignet ist, auch sehr anlassbezogene Establishment-Bedürfnisse auf schnellem Wege umzusetzen. Das geht in Großbritannien weit über das hinaus, was man in Westeuropa so sieht, beispielsweise das Hereinholen ehemaliger Amtsträger in den Aufsichtsrat von Unternehmen.

DM | Wie Thomas Piketty in einem kurz vor Kriegsbeginn in der Online-Ausgabe von Le Monde veröffentlichten Kommentar meinte, wäre ein wirksames Vorgehen gegen die russischen Oligarchen nur durch eine systematische Vermögenserhebung möglich. Möchte das im Westen irgendwer?

ES | Natürlich will das niemand. Eine Global Financial Registry, wie sie Piketty erwähnt, würde das Ende ganzer Finanzstandorte bedeuten, unter anderem von London. Die Angst vor jedem Instrument, das es öffentlichen Institutionen erlaubt, systematischen Einblick in Vermögensverhältnisse zu erhalten, ist riesengroß. Denn nichts läge näher, als dies von den russischen Superreichen auf alle Großvermögensbesitzerinnen auszuweiten. Dafür müsste man auch Offshore-Konten offenlegen und so das ganze Weltfinanzsystem neu ausrichten. Ein längst überfälliger Schritt übrigens. Direkt gesagt: Ein echtes Vorgehen gegen russische Oligarchen wäre ein Schlag gegen die Interessen der grenzüberschreitend agierenden großen Bourgeoisien der Welt. Kaum überraschend wurde in Österreich die Anfang März von Vizekanzler Werner Kogler geforderte Erhebung russischer Vermögen auch durch komplettes Schweigen der anderen politischen Parteien abgestraft.

Elisabeth Schimpfössl ist Associate Professor für Soziologie an der Aston University, Birmingham. Ihr Buch Rich Russians: From Oligarchs to Bourgeoisie erschien im Jahr 2018 (Oxford University Press).

DM | Wenn wir uns auf die Allianz zwischen Putin und den Oligarchen konzentrieren, welche grundlegenden Entwicklungspfade könnte es da in nächster Zeit geben? Anders gefragt: Wie könnte ein realistisches machtpolitisches Szenario für die Post-Putin-Zeit aussehen?

ES | Die weitere Entwicklung bei solch einem Kriegsgeschehen vorherzusagen, ist natürlich kaum möglich. Es lassen sich höchstens ganz abstrakte Szenarien benennen. Zum einen halte ich es nicht für wahrscheinlich, dass von den Oligarchen – denen ich ja einen gewissen Hebel bei der Möglichkeit, Putin von seiner Kriegspolitik abzubringen, zuspreche – ein regime change ausgeht. Hier sehe ich die breite Bevölkerung als einen viel wichtigeren Faktor an. Wir sollten nicht vergessen, dass die Putin-Zeit zwar zu Beginn mit einem langen Ölboom zusammenfiel, zugleich aber selbst in den guten Jahren die soziale Ungleichheit stets gewachsen ist, und durch die Privatisierungswellen, die in ihrem Ausmaß jene der 1990er Jahre noch übertrafen, hat sich die Versorgung großer Teile der Bevölkerung weiter verschlechtert. Zudem hat die Corona-Pandemie die russische Bevölkerung sozial hart getroffen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges werden breite Schichten noch einmal stärker unter Druck setzen.

Ein weiteres Szenario, für das man Vorbilder in der jüngeren russischen Geschichte sehen kann, wäre eine Palastrevolte. Entweder als militärischer Staatsstreich oder als Beseitigung von Putin. Die Spekulationen um einen »leise« herbeigeführten Tod Stalins sind nie ganz abgerissen. Der »plötzliche Tod« eines Gegners ist jedenfalls etwas, was russische Sicherheitsapparate bis heute häufig als Instrument einsetzen.

Zuletzt muss man auch auf den Beginn des 20. Jahrhunderts verweisen, als Russland ein Lehrbuchbeispiel für den Zusammenhang von Krieg und Revolution geliefert hat. Denn der unmittelbare Auslöser für die revolutionären Erschütterungen von 1905 war die Niederlage der zaristischen Armee im Russisch-Japanischen Krieg ab Februar 1904. Das könnte auch auf einer kleineren und weniger »spektakulären« Ebene wirksam werden: Die Proteste von Soldatenmüttern seit dem Tschetschenienkrieg Mitte der 1990er Jahre waren eine der wenigen sozialen Bewegungen der letzten 25 Jahre, die die russische Regierung ins Schwitzen gebracht hat.

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