Das kalte Herz des Krieges

von David Mayer

Editorial TAGEBUCH 5/2022

Nach rund 70 Tagen Krieg der Russischen Föderation in der beziehungsweise gegen die Ukraine gäbe es viel zu sagen. Und zu verurteilen. Vier Beobachtungen seien erlaubt: Erstens, die Widerstandskraft in der Ukraine, sowohl der Streitkräfte als auch der Gesellschaft, ist hoch. Zweitens, dieser Krieg ist bis jetzt ein »altmodischer«, konventioneller Krieg; es dominiert weniger die vom Westen in den letzten 30 Jahren praktizierte Überwältigung aus der Luft (Flächenbombardements, shock and awe, scheinbar chirurgische Lenkwaffen), sondern Bodentruppen, schwere Artillerie und die Einschüchterung der Zivilbevölkerung durch bewusst gesetzte oder in Kauf genommene Angriffe auf dieselbe. Drittens, der Westen beziehungsweise die NATO ist auf fast allen Ebenen in den Krieg gezogen: ein Wirtschaftskrieg, wie es ihn, so Adam Tooze jüngst, noch nie gab; Waffenlieferungen, systematisch und in großem Maßstab; sowie, das wurde in den letzten Tagen immer deutlicher, wachsende Präsenz westlichen (staatlichen oder privatisierten) Militärpersonals; somit wird der Westen in den nächsten Monaten wohl die Rolle einer Kriegspartei einnehmen. Das heißt viertens: Dieser Krieg wird kein kurzer sein.

Wovor alle Kritikerinnen der Forderung nach Waffenlieferungen (eine Diskussion, die mittlerweile faktisch obsolet ist) gewarnt haben, wird so begünstigt: Prolongierung, Brutalisierung und Devastierung. Zugleich gibt es mit den USA einen in diesen Krieg involvierten Akteur, dem eine solche Entwicklung nach allen Ableitungen geopolitischer und kriegsstrategischer Logik zupasskommen dürfte. Entgegen aller anderslautender Rhetorik. Denn das Herz der Kriegsgottes Ares ist unermesslich kalt.

Prolongierung, Brutalisierung und Devastierung: Was sie in der realen Welt eines jeden Krieges bedeuten, überfordert die Vorstellungskraft. Auch oder gerade weil dieser Konflikt der erste seit langer Zeit ist, in dem westliche Medien realistische Einblicke in die Wucht der Kriegshandlungen liefern. Die fast unmögliche Aufgabe besteht darin, weder Empathieregungen auszuschalten noch sich von den Affekten, die in den Bildern und Handlungen mitschwingen, in Schwindel versetzen zu lassen. Dies ist die einzige Möglichkeit, Ares’ kaltem Herz Perspektiven entgegenzusetzen, die politisch bleiben. Und die es erlauben, eine Verurteilung imperialer Großmachtlogik mit einer Haltung gegen den Krieg zu verbinden.

Ein eigener »Realismus« der Herzenskälte kann »dem« Kapital beziehungsweise seinen Eignern attestiert werden. Die Faszination der Figur des Peter Thiel – des Silicon­-Valley-Investors, Digitalisierungsideologen und Libertären mit Trump-Affinitäten – hat viel mit der Unverblümtheit der von ihm gelebten Kältemaximen zu tun. Wie unsere Autorin Moira Weigel hervorhebt, ist sein kometenhafter Aufstieg einer erfolgreichen Verbindung von Elite-College-Netzwerken, Geldgebern und Akteuren aus dem sicherheitsindustriellen Komplex zu verdanken. Im Gegensatz zu der von ihm vorgetragenen ultralibertären Ideologie fußte seine Entfaltungsmöglichkeit jedoch auf von ihm verhassten Institutionen: den Colleges und Universitäten, dem Staat und seinen Behörden. Besonders interessant an Thiel: Den Lieblingsglaubenssatz der Apologeten des Kapitalismus – es ist der freie Markt, der als zentrale Instanz fungiert und der die Wahrheit über Ressourcen, Werte und Möglichkeiten offenbart – belächelt er als naive Ideologie. Stattdessen macht er zum Programm, was kritische Beobachterinnen schon lange wissen: Kapitalismus wird unternehmerisch und gesellschaftlich erst dort interessant, wo man ein (Quasi-)Monopol erlangt hat. Das führt zurück zu einer langen Tradition des Denkens über das Wesen des Kapitalismus, die den großen französischen Historiker Fernand Braudel, die lateinamerikanische Dependenztheorie und die jüngsten Diskussionen um die historische Kontinuität der »ursprünglichen Akkumulation« verbindet: Ein zentraler Kern des Kapitalismus, so diese Analysen, sind die Verbindung aus Staat, Kapital, Monopol – und barer Gewalt. Sei es durch Krieg, Kolonisierung, Ressourcenraub oder die staatlich geförderte Enteignung und Bedrängung der Menschen, auf dass sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen und marktgängige Güter konsumieren. Selbst wenn sich die gängigen Narrative lieber an die gefälligere, zur wertvollen Marke aufgestiegenen Siegesgöttin Nike halten: In Wahrheit ist Ares auch ein Gott unseres Wirtschaftssystems.

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