Ein schwieriger
Spagat

von David Mayer

Editorial TAGEBUCH 10/2022

Der moderne Krieg, heißt es häufig, sei so etwas wie der ultimative »Leistungstest« für eine Gesellschaft. Ein »Test« nicht nur im ökonomischen und logistischen Sinne – die Ressourcen, das Material, die Umstellung von Produktion und Distribution. Sondern auch und gerade in Bezug auf das Herrschafts­arrangement, die Verhältnisse zwischen den maßgeblichen sozialen Kräften sowie die Tragfähigkeit von Rhetorik und Ideologie. Gehen die Menschen mit den Kosten und Opfern eines Krieges mit? Lässt sich die Grundlage des modernen Krieges, die Levée en masse, also der Ruf hin zur Waffe unter dem Banner eines höheren nationalen Ziels, durchsetzen? Und wird die schreckliche Erweiterung des Krieges im 20. Jahrhundert – Einschränkungen für oder systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung – geduldet? Nach dem Vietnamkrieg haben die USA als mächtigste imperiale Militärmacht ihre Kriege auf einen Modus umgestellt, der mit der Zeit in beiden Punkten ein erstaunliches Maß an Unabhängigkeit erreicht hat: Kriege wurden zunehmend mit Soldaten geführt, die sich freiwillig verpflichtet hatten, der Alltag der Menschen im eigenen Land bleib weitgehend unberührt.

Der jetzige Krieg in der Ukraine macht diese »Innovation« wieder ein Stück weit zunichte, zwingt die involvierten Akteure zurück zu den alten Fragen des »Leistungstests«: Nach der jüngsten ukrainischen Gegenoffensive musste die russische Führung zuletzt anordnen, was sie die längste Zeit hatte verhindern wollen: eine Teilmobilmachung. Ein Schritt, der die Akzeptanz dieses Krieges in Russland in hohem Maße erodieren wird. Die Regierenden in der Ukraine wiederum hängen ohnehin davon ab, dass die Bevölkerung in der Mehrheit weiterhin dem Imperativ der unbedingten nationalen Selbstbehauptung folgt. Und der Westen, zumindest der europäische? Die Opfer für die Menschen sind dort bis dato vergleichsweise luxuriös. Dennoch wird in diesem Winter die Legitimität der politisch Herrschenden und ihrer Linie gegenüber Russland zu bröckeln beginnen. Weniger Strom verbrauchen, das geht noch. Frieren wegen des Krieges, das wird vielen die Duldsamkeit strapazieren. Freilich, die in Regierungskanzleien und Medien aufgebaute kriegerische Rhetorik wird sich nur unter großen Windungen adaptieren lassen. So ein Diskurs entwickelt eine eigene Realität, so unrealistisch diese im Sinne einer Analyse von Kräften und Verhältnisse auch sein mag.

Bis dato wird solch »realen« Einschätzungen mit »wertebasiertem« Furor vorgehalten, das erstere ethos- und empathiefrei seien. Die liberale Verlogenheit solcher Argumente einmal beiseite, ist dies auch sachlich falsch. So zeigt Elke Kahr, die seit fast einem Jahr regierende KPÖ-Bürgermeisterin von Graz, im Gespräch in knappen Worten, was den Urgrund linken Denkens, auch in Bezug auf Kriege, ausmacht: den Unterschied zwischen »oben« und »unten« in den Mittelpunkt zu rücken. Das heiße nicht nur, einen Unterschied zwischen Wladimir Putin und der russischen Bevölkerung zu machen (was im dominanten Diskurs noch anginge), sondern auch zwischen Wolodymyr Selenskyj und den Ukrainern und Ukrainerinnen.

Im Interview mit Elke Kahr wird auch deutlich, wie schwer reale Verhältnisse in gelebter linker Praxis wiegen können: Graz ist nur Kommune, nicht, wie Wien, Bundesland, kann daher notwendige, gewünschte und von den politischen Kräfteverhältnissen her eigentlich mögliche Maßnahmen nicht umsetzen, weil es nicht darf bzw. die fiskalischen Mittel dafür nicht einheben kann.

Der schwierige Spagat zwischen realen Möglichkeiten und politischen Ansprüchen liefert auch ein Apropos in eigener Sache. Dass die Zeitschrift TAGEBUCH seit ihrer Gründung ein Wagnis war, nicht zuletzt ein ökonomisches, wird den meisten Lesern und Leserinnen bekannt sein. Jetzt ist dieses Wagnis symbolisch anerkannt worden: TAGEBUCH-Gründer und -Herausgeber Samuel Stuhlpfarrer wird mit dem diesjährigen Walther-Rode-Preis des Medienhauses Wien bedacht. Und zwar, wie es in der Jury-Begründung heißt, für die »mutige Neugründung eines streitbaren Printmagazins mit hoher Textqualität«. Eine wahrlich verdiente Auszeichnung – und ein Ansporn für die gesamte Redaktion, weiterhin so real zu bleiben, wie wir können.

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