Traktoren vor der Landwirtschaftlichen Fakultät der Uni Belgrad bei der Großdemo am 15. März. (Foto: Steinwender)

Serbien: Vučić wankt – aber stürzt er auch?

von Lucia Steinwender

Hunderttausende Serbinnen und Serben protestieren gegen ein System, das sie als korrupt und autoritär empfinden. Doch um Präsident Vučić zu entmachten, fehlt bislang die Strategie.


659 wörter
~3 minuten

Seit am 1. November 2024 beim Einsturz eines Vordaches des frisch renovierten Bahnhofs von Novi Sad 16 Menschen starben und sich durch das Unglück ein weiteres Sinnbild für Staatsversagen und Korruption offenbarte, reißen die Proteste gegen die Regierung und Präsident Aleksandar Vučić in Serbien nicht ab. Hunderttausende kamen zu den größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. Universitäten, Autobahnkreuze, auch der staatliche Fernsehsender wurden in den vergangenen Monaten blockiert. Als Reaktion auf die Proteste gab die Regierung Ende Jänner ihren Rücktritt bekannt. Bis zum 18. April soll nun der neue Premierminister, der politische Quereinsteiger Đuro Macut, eine neue Regierung bilden. Die Protestbewegung zeigt sich davon unbeeindruckt. Denn die Kontrolle im Land geht vom Autokraten Vučić aus. Als Präsident hat er formal zwar kaum Befugnisse, de facto laufen die Fäden im Staat allerdings bei ihm zusammen.

Genau dagegen richtet sich die Bewegung, die von Studierenden angeführt wird. Sie fordert, dass rechtsstaatliche Institutionen wie Justiz oder Medien ihrer Arbeit nachkommen. Damit ist sie für Menschen quer durch alle Altersgruppen, Milieus und politischen Lager anschlussfähig. Über 300.000 Menschen kamen am 15. März in die Hauptstadt Belgrad, darunter Landwirte mit Traktoren, Biker-Klubs mit Motorrädern und Militärveteranen. Rechtsnationalist:innen, prowestliche Liberale und Linke haben sich den Protesten ebenso angeschlossen wie Menschen vom Land, die bisher nichts mit Politik am Hut hatten. Selbst unter Vučić-Anhänger:innen hat sich die Unterstützung für die Forderungen der Bewegung seit Dezember verdoppelt, zeigt eine Studie der NGO CRTA. Auch in kleinen Gemeinden, in denen die regierende Serbische Fortschrittspartei traditionell besonders fest im Sattel sitzt, finden mittlerweile Proteste statt.

Fehlende Strategie

Vučić bringt das langsam gehörig ins Schwitzen. Bisher hat keine seiner Einschüchterungsstrategien gewirkt – weder Verhaftungen noch offene Gewalt. Auch zu seiner mehrtägigen Pro-Regierungs-Demonstration in Belgrad kamen am vergangenen Wochenende lediglich um die 55.000 Menschen. Dennoch: Um Vučić vom Thron zu stoßen, wird es wohl mehr brauchen als große Demonstrationen. In den dreizehn Jahren an der Macht hat er seine Herrschaft fest zementiert und ist auch geopolitisch bestens abgesichert: Als Lieferant billiger Rohstoffe und günstiger Arbeitskraft pflegt er ebenso gute Beziehungen zur EU wie zu Russland und China.

Auf internationale Unterstützung kann die junge Widerstandsbewegung also nicht zählen. Auch eine klare Strategie, wie man Vučić stürzen könnte, scheint sie bisher nicht zu haben. Aus einigen besetzten Fakultäten hört man nun die Forderung, dass eine unabhängige Übergangsregierung die Bedingungen für freie Wahlen schaffen soll. Der Großteil der Bewegung grenzt sich jedoch weiter streng von parteipolitischen Fragen ab. Genau das hat den Studierenden in den vergangenen Monaten das Vertrauen der Bevölkerung beschert. Denn die parlamentarische Opposition ist in Serbien höchst unbeliebt.

Strukturen der Selbstorganisierung

Statt auf Machtübernahme von oben setzt man auf Selbstorganisierung von unten. An den Universitäten gelingt das bereits: In riesigen Plena organisieren sich tausende Studierende, Führungspersonen oder Sprecher:innen gibt es nicht. Und auch abseits der Universitäten springt der basisdemokratische Funke über: Quer durch Serbien wurden in den letzten Wochen Bürgerräte abgehalten. In sogenannten „zborovi“, einem Erbe aus dem sozialistischen Jugoslawien, beratschlagen Nachbarschaftsversammlungen, wie es mit den Protesten weitergehen soll.

Könnten daraus nachhaltige Strukturen der Selbstorganisierung entstehen? Diese wären für den Erfolg der Bewegung entscheidend. Denn kampflos wird Vučić das Feld nicht räumen. Ermüden die Massenmobilisierungen, bevor konkrete Veränderungen erreicht wurden, könnte die Aufbruchstimmung schnell in Frustration und Apathie umschlagen. Gelingt es hingegen, im Zuge der Proteste neue Gruppen, Organisationen und Bündnisse an Universitäten, in Nachbarschaften und am Arbeitsplatz aufzubauen, könnte sich die Bewegungslandschaft in Serbien nachhaltig verändern. Das dürfte auch für eine mögliche Zukunft ohne den Autokraten Vučić nötig sein. Denn die Frage, wie diese aussehen könnte, ist in der äußerst heterogenen Bewegung noch stark umkämpft.

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