Halbe Wahrheiten, halbe Lügen
von Trautl Brandstaller
Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung
EUR 18,50 (AT), EUR 18,00 (DE), CHF 25,90 (CH)
Der Soziologe Nils C. Kumkar hat sich ein aktuelles Thema vorgenommen, die sogenannten alternativen Fakten. Einleitend verweist er zu Recht darauf, dass die Häufung alternativer Fakten (oder, wie es bisweilen unsinnigerweise heißt, »postfaktischer Fakten«) viel über den derzeitigen Zustand der Demokratie aussagt. Während uns der Autor etwas zu ausführlich an seinem umfassenden erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Wissen teilhaben lässt (die Literaturliste umfasst ganze 19 Seiten), arbeitet er seine Thesen zu den »alternativen Fakten« an drei Beispielen ab. Den größten Teil seiner Ausführungen nimmt die Wahl Donald Trumps ein, in deren Folge erstmals der Begriff »alternative facts« geprägt wurde. Trumps Pressesprecher behauptete bekanntlich, in Washington zur Amtseinführung habe sich die größte Menschenmenge versammelt, die jemals bei einer solchen Feier anwesend gewesen sei, eine Behauptung, die durch Foto- und Fernsehaufnahmen leicht widerlegt werden konnte. Kumkar beschränkt sich hier ganz auf den Mechanismus zwischen Macht und Medien, ohne näher auf die gesellschaftliche Rolle der Medien und ihrer Eigentümer einzugehen. Auch die sozialen Medien werden von Kumkar unterschätzt.
Mehr Aufmerksamkeit widmet er dem Thema der Glaubwürdigkeit: Alternative Fakten fänden deshalb so leicht ihren Weg in die Öffentlichkeit, weil sie keine neuen Tatsachen behaupteten, sondern behauptete Tatsachen negierten. Sie nützten vorhandene Konflikte aus, um eine Gegenposition auszubauen.
Komplizierter erweist sich die Analyse alternativen Fakten beim zweiten Thema seiner Untersuchung, dem Klimawandel. Da hier auch Wissenschafter verschiedene Ansichten vertreten, der Konflikt also schon in der Sache selbst angelegt ist, scheinen Anhänger alternativer Fakten leichtes Spiel zu haben. Hinzu kommt der offene Konflikt zwischen naturwissenschaftlicher Expertise und wirtschaftlichen Interessen, der im derzeitigen neoliberalen System in der Regel zugunsten der Wirtschaft entschieden wird.
Auch das Thema Corona hat viele alternative Fakten bis hin zu Verschwörungstheorien produziert (das Buch zieht allerdings keine klare Trennlinie zwischen den beiden Phänomenen). Das Auftreten einer Pandemie hat die Gesellschaft offenkundig auf mehreren Ebenen überfordert – politisch, medizinisch, juristisch und moralisch. Unsicherheit und Ängste beherrschten die mediale Debatte. Wesentlichen Anteil an der allgemeinen Verunsicherung hatte die Inkonsistenz der offiziellen Pandemiepolitik.
Erst am Schluss seines Buches kommt Kumkar auf die politische Funktion der alternativen Fakten zu sprechen: Die »entscheidenden politischen Konflikte« werden verdrängt bzw. als unlösbar geschildert. Und die stückweise Reparatur der Gesellschaft, wie sie von den meisten Politikern versucht werde, bleibe hinter der »Drastik der Situation« zurück.
Die eine Wahrheit war und ist nicht zu finden. Gefunden werden muss aber ein Fundament von allgemein anerkanntem Wissen, mit dem verschiedene Meinungen konfrontiert werden können. »Best account« nennt der kanadische Philosoph Charles Taylor die Summe jener Gewissheiten, über die allgemeiner Konsens herrschen sollte. Die »Wahrheit« dagegen ist als dynamischer Prozess zu sehen, oder wie es Ernst Fischer einmal formulierte: »Wir irren vorwärts.«
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