Der ÖGB muss sich entscheiden

von Kathrin Niedermoser

Wollen die Gewerkschaften die Interessen der Lohnabhängigen vertreten oder lieber ihr staatstragendes Selbstverständnis pflegen?

Dass die Preise für Energie, Mobilität und Lebensmittel schon jetzt für viele Menschen kaum mehr leistbar sind, scheint die Bundesregierung nicht weiter zu beunruhigen. Und so ruhen die Hoffnungen wieder einmal auf den Gewerkschaften, schließlich sind sie, bei aller Kritik, die einzige progressive Kraft, die ob ihrer Organisationsmacht den politischen Kurs im Land beeinflussen könnte.

Bereits im Juni trommelte der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) unter dem Motto »Preise runter« zu einer Betriebsrätekonferenz. Die Lohn- und Gehaltsverhandlungen, so die Ankündigung damals, dürften diesen Herbst keinesfalls moderat ausfallen, die prognostiziert höchsten Reallohnverluste seit 1955 nicht hingenommen werden. Für 17. September riefen ÖGB und Fachgewerkschaften schließlich in allen Bundesländern zu Demonstrationen auf. Am Ende gingen, nach optimistischer Selbsteinschätzung, kaum mehr als 32.000 Menschen auf die Straße – österreichweit, wohlgemerkt. Woran es lag? Darüber lässt sich trefflich spekulieren. Ob der ein weiteres Mal aufgewärmte Slogan »Preise runter« hilfreich für die Mobilisierung war, darf bezweifelt werden.

Während die Fachgewerkschaften Pro-Ge und Vida die traditionelle Losung »Löhne rauf, Preise runter« propagierten, lies der ÖGB den ersten Teil der Losung kurzerhand weg, und das obwohl nur zwei Tage nach der Demonstration die Kollektivvertragsverhandlungen der Metaller starten sollten. Unter den Fachgewerkschaften scheint man die Erwartungshaltung der Mitglieder tatsächlich besser zu antizipieren. Die Vida ließ frühzeitig mit dem Vorschlag aufhorchen, eine gemeinsame »Sonderkollektivvertragsrunde« für alle Branchen durchführen zu wollen, und die in der Vida organisierten Eisenbahnerinnen gingen mit der ambitionierten Forderung nach einem Plus von 500 Euro brutto in die Kollektivvertragsverhandlungen. Vorsorglich holte man sich beim ÖGB gleich die Streikfreigabe ein.

Nicht weniger inkonziliant den Arbeitgebern gegenüber zeigten sich anfangs auch die Metaller mit ihrer Forderung nach 10,6 Prozent mehr Lohn.

Der ÖGB als Gesamtorganisation scheint sich indes selbst in der gegenwärtigen Krisensituation nicht von seinem staatstragenden Selbstverständnis lösen zu können. Das Versprechen, den Wohlstand langfristig über stetige Wachstumsraten, moderate Lohnabschlüsse und einen starken Sozialstaat zu sichern, galt ohnedies nie »für alle« – schon gar nicht für die Menschen aus dem globalen Süden. In den letzten Jahren verlor das wachstumsorientierte »Nachkriegsmodell« aber auch hierzulande merklich an Wirkmacht – aus ökologischer Sicht ist es längst untragbar, aus sozialer hat es zunehmend ausgedient. Das zeigt sich an sinkenden Lohnquoten, einem wachsenden Anteil von Lohnabhängigen in prekären und schlecht bezahlten Branchen, sich stetig verschlechternden Arbeitsbedingungen querdurch und am Abbau von sozialstaatlichen Strukturen.

Angesichts der aktuellen Lage, in der breite Bevölkerungsschichten Angst vor dem Winter haben und davor, den nächsten Wocheneinkauf nicht bezahlen zu können, erscheint dem ÖGB die Rolle des Friedensstifters für das konfliktreiche und unversöhnliche Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital noch weniger angemessen.

Tatsächlich würde die Situation die Gewerkschaften gleich in zweifacher Hinsicht herausfordern. Einerseits auf der politischen Ebene, im Kampf für umfangreiche sozial- und verteilungspolitische Maßnahmen, um die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten zu verhindern. Und andererseits auf der Ebene der Kollektivvertragspolitik, um über kräftige Reallohnzuwächse die Folgen der Inflation abzumildern. Klingt unrealistisch? Mag sein. Es scheint aber auch ziemlich alternativlos.

»Angesichts der Krise scheint dem ÖGB die Rolle des Friedensstifters für das konfliktreiche Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital noch weniger angemessen.«
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