Es ist erstaunlich, aber ein größeres mediales Erinnerungsbemühen zum 50. Jahrestag des sogenannten Kärntner Ortstafelsturms blieb aus. Bei der im Herbst 1972 ihren Höhepunkt erreichenden rechten Mobilisierung gegen zweisprachige, also deutsch und slowenisch verfasste Ortstafeln ging es um eigentlich Selbstverständliches in einer Demokratie: Sprachliche und ethnopolitische Minderheiten genießen das Recht auf besonderen Schutz. Diese Selbstverständlichkeit war Österreich bekanntlich durch die alliierten Besatzungsmächte im Staatsvertrag juristisch anerzogen, aber in Bezug auf Ortstafeln erst wesentlich später umgesetzt worden (Ortstafelgesetz 1972). Das darin sich andeutende Manko an politischer Kultur ließ kritische Geister immer wieder verzweifelten. So auch Leopold Spira, als er im Dezember 1972 Überlegungen zum »österreichischen Syndrom« anstellte, die trotz einiger veralteter Begriffsverwendungen (»Volk«) auch heute noch triftig sind. Etwa der Verweis auf die ambivalente Rolle der SPÖ.
Leopold Spira
Das österreichische Syndrom
»Im politischen Charakter des österreichischen Volkes sind viele und oft auch widersprüchliche Elemente enthalten [...]. Aber es gibt ein reaktionäres österreichisches Syndrom, ein System von zusammenhängenden Anschauungen, Vorurteilen und Verhaltensweisen, das geschichtlich weit zurückreicht, aber als Ideologie, im Sinne von falschem Bewußtsein, zäh in eine Gegenwart ragt, deren Lebensbedingungen sich sehr wesentlich verändert haben. [...]
Zu dem reaktionären österreichischen Syndrom gehören Antisemitismus und Deutschnationalismus, dazu gehört auch die Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten gegen Andersdenkende, Anderssprechende und Andersrassige, dazu gehört aber auch, daß man meist nicht gerne über diese Dinge spricht und sich und der Welt einredet: ›Wir sind ja gar nicht so.‹
[...]
Primär haben die Politiker versagt – und Kärnten hat seit 1945 eine SP-Mehrheit. Die SPÖ errang diese Mehrheit – lange Zeit die einzige neben Wien – gerade deswegen, weil die deutschnationalen Tendenzen in Kärnten traditionell antiklerikal gewesen sind und daher nach 1945 die Mehrheit der Kärntner Nazis zur SPÖ gegangen ist, während sich anderswo die ÖVP den größeren Anteil sichern konnte.
[...]
Kreisky legt großen Nachdruck auf das Argument, der Staatsvertrag zwinge Österreich einfach dazu, die doppelsprachigen Ortstafeln aufzustellen, und das sei ein eher kleiner Preis für die Vorteile, die der Staatsvertrag gebracht hat. Das Argument ist schwer zu widerlegen, aber es hat seine Tücken. [...] [Es] bleibt noch die reservatio mentalis, es könnten sich die Verhältnisse ja wieder einmal ändern.
[...]
Man kann nicht erwarten, daß eine SPÖ-Regierung [...] schlagartig das Bewußtsein des ganzen österreichischen Volkes von den problematischen Resten der Vergangenheit befreit. Dann kam man umso weniger erwarten, als ja auch die SPÖ nach 1945 dadurch groß geworden ist, daß sie an manchem angeknüpft hat, was der Ausgang des Krieges eigentlich hätte zerreißen müssen.«
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