»Der russische Überfall hat der Linken das Genick gebrochen«

von Pablo Iglesias

Fotos: Álvaro Minguito

Raúl Sánchez Cedillo schreibt in seinem neuen Buch über den Ukraine-Krieg und dessen Folgen für die Welt. Ein Gespräch über ein neues Kriegsregime und die Gefahr aufkommender Faschismen.


3352 wörter
~14 minuten

Pablo Iglesias | Wast hat dich dazu bewogen, das Buch Esta guerra no acaba en Ucrania (dt.: »Der Krieg endet nicht in der Ukraine«) zu schreiben?

Raúl Sánchez | Es waren die Leute vom Verlag Katakrak, die mir aufgrund meiner Artikel seit Beginn des russischen Angriffskrieges das Buch vorgeschlagen haben. Es war ein ziemlicher Kraftakt für mich, aber er ist gelungen. Mir war es einfach ein dringendes Anliegen, über einen Konflikt zu schreiben, von dem man sagen kann, dass er das restliche Jahrhundert entscheidend prägen wird, selbst wenn wir noch nicht wissen, wie genau. Was wir aber sagen können: Wenn es in Europa keine umfassende politische und soziale Erhebung gibt, dann geht’s hin zum Schlechteren. Dabei lässt sich nichts prinzipiell ausschließen. Die militärische Eskalation findet ja zwischen Blöcken statt, die nicht nur über nukleare Waffen, sondern auch über massenhaft konventionelle und biologische Kampfmittel verfügen, um Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes zu verursachen. Je länger dieser Krieg geht, desto eher wird die weitere Entwicklung von Autoritarismus und/oder Faschismus geprägt sein – noch dazu im Kontext einer fortdauernden Energiekrise, zunehmender, durch die globale Erwärmung verursachter Wetterextreme und wachsender Migrationsströme von Menschen, die vor Krieg, Hunger, der Ausbreitung von Wüsten und Trinkwassermangel fliehen.

Man könnte meinen, dass ich in eine katastrophistische Panik verfalle, die noch dazu einen eurozentrischen Bias aufweist. Immerhin haben wir Kriege jahrzehntelang aus sicherer Entfernung mitverfolgt, während jetzt der europäische Kontinent zu einem Kriegsschauplatz geworden ist. Aber es ist nicht bloßer Katastrophismus. Das kapitalistische Weltsystem ist schon vor geraumer Zeit in eine Phase eingetreten, die Giovanni Arrighi und Beverly Silver einmal als eine des systemischen Chaos bezeichnet haben. Aus ihrer Sicht entstand dieses durch den Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie, der bereits nach 1945 einsetzte, aber keineswegs gleichzusetzen sei mit einem Verlust ebendieser hegemonialen Position. Die Vereinigten Staaten haben weltweit das größte Leistungsbilanzdefizit und seit den 1980er Jahren einen Einbruch nicht nur der Industrieproduktion, sondern bei allen wichtigen Indikatoren menschlicher Entwicklung erlebt. Zugleich sind sie weiterhin die größte Militärmacht des Planeten, mit 750 Militärstützpunkten in etwa 80 Ländern. Darüber hinaus bestimmen sie die weitere Entwicklung der Menschheit durch die Vorherrschaft des Dollars als wichtigster Handels- und Reservewährung sowie durch die Rolle von US-­Finanzministerium und Wall Street als größten Empfängern der Leistungsbilanzüberschüsse der großen Exportländer. Angesichts dieser Tatsachen kann man sagen, dass die schiere Existenz der USA als Nationalstaat letztlich von der Fähigkeit abhängt, diese Hegemonie unter allen Umständen aufrechtzuerhalten.

Als ob das nicht genug für ein systemisches Chaos wäre, muss man noch die Turbulenzen um »peak oil« und die zurückgehenden Profite im Energie-Extraktivismus hinzudenken; genauso wie die sich abzeichnende Endlichkeit zentraler Ressourcen – Energie, Nahrungsmittel, Rohstoffe – inmitten eines Kapitalismus, dessen Geist von Psychopathen wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos verkörpert wird.

Die Vulnerabilität der Gesundheitssysteme angesichts der Covid-Pandemie sowie die zunehmenden Wetterextreme machen es meines Erachtens notwendig, über Arrighi und Silver hinauszugehen und von einer Phase des ökosystemischen Chaos zu sprechen. Das ist wahrlich ein perfekter Anlass für den Ausbruch eines Krieges zwischen Atommächten, der nicht nur Europa, sondern den gesamten Planeten in Mitleidenschaft zieht! Deshalb verweist der Buchtitel darauf, dass der Krieg nicht in der Ukraine endet, weil die Tatsache des imperialistischen Überfalls Russlands eben nicht den größeren Kontext, in den dieser Krieg eingebettet ist, aufhebt. Das macht es geradezu lachhaft, wenn nicht unverantwortlich, zu glauben, man könnte das Ganze allein vom Gesichtspunkt einer Verletzung der Charta der Vereinten Nationen her betrachten. Angesichts der involvierten Akteure und ihrer jeweiligen Alliierten sowie angesichts der Geschichte der Ukraine müssen wir davon ausgehen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Beginn eines von Europa ausgehenden Weltkrieges inmitten einer ökologischen und kapitalistischen Systemkrise handelt. Mehr als genug dringliche Gründe, denke ich, um ein solches Buch zu verfassen!

PI | In deinem Buch sprichst du von einem neuen »Kriegsregime«. Was bedeutet dieser Begriff für dich?

RS | Der Begriff verweist grundlegend auf die Durchsetzung eines Freund-Feind-Schemas im Handeln der Regierungen, ob in der Außen- oder Innenpolitik. Das heißt, dass ein Kriegsregime auch auf die Beziehungen zwischen Parteien und politischen Kräften, zwischen der Regierung und den politischen und sozialen Kämpfen, auf den öffentlichen Raum der Medien und der sozialen Netzwerke sowie auf die Möglichkeit von Redefreiheit und Demonstrationsrechten angewandt werden wird. Dieses Freund-Feind-Schema im Handeln der Regierenden funktioniert über die Verbreitung von Narrativen, die dem Feind die Verschlimmerung der Krise und ihre Folgen zur Last legt. Auch wird ihm die Verantwortung für die gegen die Bevölkerungsmehrheit gerichteten Maßnahmen zugeschrieben.

Von einem gesonderten Kriegsregime zu sprechen ist im Falle Russlands wenig sinnvoll, da nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Putsch Boris Jelzins der jahrelange Tschetschenien-Krieg dazu gedient hat, sowohl die Macht der Oligarchen als auch jene der Silowiki, also der Vertreter von Militär- und Sicherheitsapparaten, auf brutale Weise zu festigen. Seit der Annexion der Krim und der Unterstützung für die Donbass-Gebiete kann man daher eher von einer Modifikation in einem bestehenden und erstarkenden Regime des Autoritarismus und Militarismus sprechen.

Was die EU-Staaten betrifft, so unterbricht das Heranwachsen eines Kriegsregimes eine Phase der scheinbaren Ambivalenz. Diese hatte sich nach der Covid-Pandemie und dem nun unmittelbar bevorstehenden Ausbruch einer tiefgreifenden Umwelt- und Klimakrise eröffnet und stand in einem mittelbaren Wechselverhältnis mit der Dynamik bestimmter politischer Kämpfe in den USA: Black Lives Matter, die vierte Welle des Feminismus seit 2018, der gewerkschaftliche Organisierungsschub unter den in Bezug auf ihre Herkunft äußerst unterschiedlichen Beschäftigten in großen Handelsunternehmen, Vermittlungsplattformen etc. Im Zuge dieser Konstellation wurde, wie schon in der Krise nach 2008, der Neoliberalismus für tot erklärt und sein Regime der Finanzialisierung und der Renditeabschöpfung durch eine steigende Verschuldung der Mittel- und Arbeiterklassen infrage gestellt.

Im Vergleich zu den Jahren nach 2008 ist die Lage heute jedoch eine wesentlich verschärfte – wegen der wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen der Pandemie, der kriminellen Versäumnisse in der anstehenden Dekarbonisierung sowie nicht zuletzt wegen des Aufstiegs einer rassistischen und nationalistischen Rechten in den Mitgliedsländern der EU, die ihre Institutionen und ihre gesamte Existenz bedroht. Und so erlebten wir in den letzten zwei Jahren Dinge wie den European Green Deal, die Auflage der Next-Generation-EU-Anleihe sowie die Errichtung großer Aufbau- und Resilienzfonds, aber auch die europäischen Richtlinien zu befristeten Arbeitsverträgen, Mindestlöhnen und zur Scheinselbstständigkeit.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der auf militärische Konfrontation ausgerichteten Haltung in den Nato-Staaten und der sich ankündigenden Lösung der Widersprüche »von oben«. Wer diesen Zusammenhang nicht erkennen kann, der oder die wird kaum in der Lage sein, der nun aufkommenden Welle von Austerität und Autoritarismus etwas entgegenzuhalten, weil dann das neue Kriegsregime nicht als eine Flucht nach vorn im Rahmen eines europäischen Projekts erkennbar wird, das von den Oligarchien aus Finanz, Unternehmen, Politik und Medien völlig gekapert worden ist. Diese ziehen den Krieg und den ständigen Ausnahmezustand jedwedem Versuch vor, eine Wiederauflage des New Deal zu formulieren. Durch die kriegsorientierte und militaristische Reaktion der EU auf den russischen Überfall auf die Ukraine ist die Umsetzung eines reformorientierten Kurses und der dazugehörenden gigantischen finanziellen und steuerpolitischen Anstrengung äußerst unwahrscheinlich geworden.

In diesem Sinne sollte man die längerfristige Strategie des Kremls nicht unterschätzen. Denn es gibt eine offenkundige Affinität zwischen den reaktionären Imperialisten des Kremls und einem Teil der rassistischen Rechten in Europa und den USA. Das lässt einen vermuten, dass Letztere die Nutznießer der explodierenden Widersprüche innerhalb der EU sein werden. Und es wird sich auch nicht durch die scheinheiligen, von der EU hochgehaltenen Werte verhindern lassen: Wie wir gesehen haben, hat diese kein Problem damit, mit der polnischen Rechten zu paktieren, die sich von ihrem russischen Gegenstück in Bezug auf ihre Haltung zu Geschlechterfragen und LGBTIQ-Rechten nicht unterscheidet, aber eben historischer Gegner der imperialen Ambitionen des Kremls ist.

Raúl Sánchez Cedillo ist Aktivist, Philosoph, Autor und Übersetzer. Er gehört der 2011 gegründeten Fundación de los Communes an, einem postoperaistisch inspirierten Netzwerk, das Forschungen aus sozialen Bewegungen heraus betreibt. Jüngst veröffentlichte er im Verlag Katakrak sein Buch Esta guerra no acaba en Ucrania (»Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine«), dessen deutsche Übersetzung mit Unterstützung von medico international zum Jahrestag des Angriffs im Februar 2023 bei transversal texts erscheinen wird. 

PI | Im ersten Teil deines Buches widmest du dich den Ursprüngen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine im postsowjetischen Kontext. Dabei verweist du auf Diskurse, die auf militärischer wie ziviler Ebene die Kriegsdynamik normalisieren. Welche Diskurse sind das?

RS | Von russischer und weißrussischer Seite, aber auch in den während der Pandemie aufgekommenen querfrontlerischen Diskursen (im Spanischen »rojipardo«, rotbraun, genannt, Anm.), die ich im Buch als Zombie-Neostalinismus bezeichne, wird verlautet, dass der russische Angriff wegen der zunehmenden Aggressivität der Nato seit 2014 unvermeidlich war. In dieser Darstellung fungiert der Auftritt Wladimir Putins auf der Sicherheitskonferenz in München im Februar 2007 als Beleg dafür, dass das russische Regime immer friedliche Absichten gehegt und ausreichend früh davor gewarnt habe, was passieren könnte, wenn die Nato ihre Expansion nicht beende. In diesen Diskursen folgt alles einem Plan der USA, um mit der ohnehin geringen diplomatischen und sogar wirtschaftlichen Autonomie der EU aufzuräumen sowie einen ernsten Kontrahenten auf dem globalen geopolitischen Tableau zu schwächen und dadurch den Weg für eine strategische Konfrontation mit China freizumachen. Es gibt im Rahmen dieses Diskurses natürlich Abstufungen: Die etwas halluzinatorische Unterstützung Evo Morales’ für Putin als »antiimperialistischen Führer«, die in gewissem Sinne einer Form klassischer »Realpolitik« entspricht, ist nicht das Gleiche wie die fortlaufenden Wandlungen rotbrauner Positionen – die, um es deutlich zu sagen, einen Faschismus »von links« verkörpern. In diesen finden die ressentimentbehafteten, reaktionären, rassistischen und patriarchalischen Affekte der alten und jungen Generationen des Reststalinismus mit den nationalrevolutionären und neokommunitaristischen Positionen eines Alain de Benoist, Diego Fusaro oder Alexander Dugin zusammen. Dort herrscht eine Haltung, die den von der EU oder den USA verfochtenen Werten entgegengesetzt ist: Man verteidigt die Nation, die Tradition, die weiße Arbeiterklasse, die Familie sowie eine patriarchale Idee von Geschlecht und Sexualität. Die Migranten und Migrantinnen werden als eine von »globalistischen Eliten« manipulierte Masse verstanden, die dazu dienen, die Nation und eine imaginäre nationale Arbeiterklasse zu zerstören.

Was die Diskurse des, wie Putin es nennt, »kollektiven Westens« betrifft, so finden wir hier das spiegelgleiche Gegenteil dessen, was ich soeben beschrieben habe. Wie Bill Clinton in The Atlantic kurz nach Beginn des Krieges schrieb: Wir taten unser Bestes, um Russland in den Verein demokratischer Nationen zu integrieren, aber das stellte sich als unmöglich heraus. Die Nato sei eine militärische Organisation zur Verteidigung der liberalen Demokratien in Europa, und nur eine totalitäre Macht könne sich gegen ihre Erweiterung aussprechen.

In Europa gib es seit dem Krieg den Versuch, einen neuen Machtblock aus den beiden Elementen »Neoliberalismus« und »neokolonialer Eurozentrismus« zu schmieden: die bürgerlich-konservativen Parteien und atlantisch orientierte extreme Rechte wie Giorgia Meloni oder die spanische Partei Vox zusammen mit traditionellen Sozialdemokraten und den Grünen gegen die emanzipatorischen Ansinnen von sozialistischer, kommunistischer und antikolonialer Seite, aber auch gegen jene extreme Rechte, die prorussisch ist. Das ist keine Überraschung: Die Geschichte zeigt, dass im Krieg immer die diktatorischen Extreme Oberhand gewinnen; und dass die Beziehung zwischen Neoliberalismus, Kolonialismus und Faschismus nachweislich eng ist. Letzten Endes sind die Faschismen immer die präferierte »provisorische Lösung« für die besitzenden Klassen.

PI | Du schreibst, dass der Erste Weltkrieg, nicht der Zweite, die wichtigste historische Vergleichserfahrung für ein Verständnis der momentanen politischen Lage und des aktuellen Krieges sei. Was meinst du damit?

RS | Der Gebrauch solcher Analogien bringt ja immer Probleme und Fallstricke mit sich, da muss man vorsichtig sein. Das beginnt schon damit, dass es einen hellhörig werden lässt, wenn sich beide Seiten gegenseitig beschuldigen, Nazis und totalitär zu sein. Putin wird als Wiedergänger Hitlers bezeichnet, während Wolodymyr Selenskyj ein Regime in der Nachfolge von Bandera und den Nazis anführen soll, das von den degenerierten »globalistischen Eliten« als Rammbock gegen Russland eingesetzt würde. Diese propagandistische Ausschlachtung des Zweiten Weltkriegs verdeckt freilich Konstellationen, die erst sichtbar werden, wenn wir den Ersten Weltkrieg in den Blick nehmen. Ich denke an den Konflikt zwischen imperialistischen Blöcken um ein Schlüsselland, das wiederum durch einen Bürger- und Unabhängigkeitskrieg geschwächt war, nämlich Serbien. Den Hintergrund einer Hegemonialposition, der britischen, die in eine Niedergangsphase eingetreten war. Die Präsenz einer Semiperipherie, der russischen, die darum rang, in das Zentrum des Weltsystems vorzudringen.

Es gibt weitere Aspekte des Ersten Weltkrieges, die für das Verständnis des aktuellen Krieges in der Ukraine hilfreich sind: der moralische Hochmut, mit dem beiden Seiten den Krieg als zivilisatorischen Kreuzzug ausgeben, zugleich die Leichtfertigkeit bzw. das »Schlafwandlertum«, wie Christopher Clark es in Bezug auf den Ersten Weltkrieg nannte, mit dem unverhohlen militaristisch agiert und ein bedingungsloser Sieg gefordert wird. Ein anderer Aspekt, der eine weitreichende Ähnlichkeit mit der Phase des fanatischen Nationalismus und der »heiligen Einheit« in Frankreich bzw. des »Burgfriedens« in Deutschland ab dem Juli 1914 aufweist: die Darstellung des Pazifismus als Agent der gegnerischen Seite.

Was wiederum im jetzigen Ukraine-Krieg kaum etwas taugt, ist die Analogie mit dem Zweiten Weltkrieg im Sinne eines Heraufbeschwörens eines Kampfes zwischen Demokratie und Faschismus bzw. Autoritarismus. Ich fürchte, dass die faschistischen Tendenzen in beiden Blöcken zu gleichen Teilen zu finden sind.

»Die Passivität der Mehrheit der Menschen gegenüber der kriegerischen Eskalation vor und nach dem russischen Überfall war verstörend. Das Gleiche gilt für die Kriegsbegeisterung der progressiven Mitte-links-Kräfte in Europa – mit ihrem Furor, ihrem moralischen Hochmut und ihrer propagandistischen Schamlosigkeit.«

PI | Für dich gibt es auch einen Zusammenhang zwischen dem Kriegsregime und den neuen Faschismen. Kannst du das genauer erklären?

RS | Nicht nur einen Zusammenhang, sondern auch eine gewisse Kausalität, zumindest als verstärkendes Element. Einer der Ausgangsgedanken des Buches lautet: Im Ersten Weltkrieg erlebten wir zum ersten Mal die Dynamik von Generalmobilmachungen und die vollständige Konversion von Alltag und Wirtschaft im Rahmen einer gigantischen Militär- und Sozialmaschinerie. Schützengräben, chemische Waffen, der erstmalige Einsatz von Panzern, Trommelfeuer und die Jünger’schen »Stahlgewitter« bedingten eine hochenergetische Verschmelzung unterschiedlicher Strömungen der politischen Kultur und unter den konservativen, kolonialen, patriarchalen und militaristischen Subjektivitäten in Europa.

Die traumatische Erfahrung des Krieges und die Folgen der Niederlage im Falle Deutschlands und Österreich-Ungarns bzw. des »verstümmelten Sieges« (»vittoria mutilata«) im Falle Italiens katalysieren die tödlichen Leidenschaften und Narrative der »konservativen Revolution«, aus der die verschiedenen Varianten des Faschismus erwachsen sollten. Hier sehen wir einen sehr engen Zusammenhang zwischen Krieg, modernen Kriegsmaschinerien und ihren Auswirkungen auf die Körper und die Subjektivitiäten.

Wenn wir an den aktuellen Krieg denken – von dem es heißt, er sei hybrid, nichtlinear, kenne keine Grenzen, ob im militärischen, sozialen oder »informationellen« Sinne –, dann wird die Durchsetzung des Kriegsregimes so etwas wie ein Ökosystem schaffen, in dem Faschismen bestens gedeihen können. Allein schon deshalb ist die Beendigung des Krieges ein absoluter Imperativ, dem über jede Richtungskonkurrenz hinaus und gegen die Propaganda beider Seiten zu folgen ist. Was wir hier erleben, ist die paradoxe Situation, dass im Namen des Kampfes gegen Totalitarismus und Faschismus die idealen politischen, sozialen und medialen Bedingungen für einen Aufschwung neuer Faschismen kreiert werden – Faschismen, die sogar schlimmer als die historischen zu werden drohen.

PI | Du machst eine pazifistische Haltung als Antrieb einer zukünftigen großen sozialen und politischen Bewegung in Europa stark. Zurzeit scheinen wir in Europa jedoch weit von Anti-Kriegs-Bewegungen wie jener im Jahr 2003 entfernt zu sein. Gibt es Hoffnung, dass sich die Situation in den nächsten Monaten ändert?

RS | Die Passivität der Mehrheit der Menschen gegenüber der kriegerischen Eskalation vor und nach dem russischen Überfall war verstörend und furchtbar. Das Gleiche gilt für die Kriegsbegeisterung der progressiven Mitte-links-Kräfte in Europa und den USA – mit ihrem Furor, ihrem moralischen Hochmut und ihrer propagandistischen Schamlosigkeit. In Spanien fungierte die Friedensbewegung in der Vergangenheit als grundlegender Katalysator bei der Neuformierung und dem Wiedererstarken zunächst der sozialen, in der Folge auch der politischen Linken. Aus der Bewegung gegen den Nato-Beitritt in der ersten Hälfte der 1980er ging unter anderem die Partei Izquierda Unida hervor, vor allem aber eine neue Generation von Sozialbewegungsaktivistinnen, die dann ab 1989 auch die Kampagne der Verweigerung des Militärdienstes initiieren sollte. Auch die beiden Regierungen des Sozialisten Zapatero zwischen 2004 und 2011 wären ohne die sich nach der Bewegung gegen den Irakkrieg herausbildende neue ethische Grundhaltung breiter Mehrheiten nicht denkbar gewesen. Warum finden wir, gerade in Spanien, aktuell keine ähnlichen Bewegungen? Mir fallen folgende Gründe ein, die man nicht isoliert voneinander, sondern in ihrem Zusammenwirken betrachten sollte: der brutale und stark medialisierte Charakter des russischen Überfalls; die hervorragende Propagandamaschinerie von ukrainischer und US-amerikanischer Seite und ihre Ableger in den sozialen Medien; die Tatsache, dass die Linke in Spanien an der Regierung ist und die verschiedenen Teile der Linkskoalition starke Ambivalenzen gegenüber dem Krieg und der Militarisierung der EU aufweisen, die ja zugleich jene Mittel verteilt, die eine soziale Explosion in Spanien verhindern. Ich sehe zwei entscheidende Punkte: Einerseits hat der russische Angriffskrieg der europäischen Linken das Genick gebrochen, sie gespalten und einer neomilitaristischen Haltung sowohl in ihren atlantizistischen wie prorussischen Teilen Vorschub geleistet. Andererseits lässt sich diese Anfälligkeit nicht ohne die tiefgreifende Erschütterung, ja Depression verstehen, die das kapitalistische Management der Covid-Pandemie in der globalen Psyche und in unserer Wahrnehmung des Werts des Lebens hinterlassen hat.

Der allgemeine Hintergrund dieses sich zum Weltkonflikt ausbreitenden Krieges ist ein globalisierter Kapitalismus, dessen Machtzentren sich der Endlichkeit und dem Widerstand durch den Planeten Erde und seiner Biosphäre gegenübersehen. Dieser globalisierte Kapitalismus ist gerade dabei, der arbeitenden Mehrheit wieder strikte Austeritätspolitiken aufzubürden, die die Lebensverhältnisse für die Mehrheit der Menschen unerträglich machen werden. Der Krieg bietet sich in diesem Kontext aufs Neue als Lösung der Widersprüche an, als »reinigender Krieg« im Inneren wie im Äußeren. Der Widerstand gegen diesen Krieg wird ab einem gewissen Zeitpunkt unvermeidlich werden, und ich denke, wir werden hier in den nächsten Monaten eine starke Zunahme erleben. Widerstand heißt natürlich nicht, dass dies automatisch auch effektiv ist. Die historische Erfahrung legt vielmehr nahe, dass der Pazifismus ohne eine umfassende Revolte immer den Kürzeren zieht. Deshalb schlage ich einen, wie ich es nenne, »konstitutiven Frieden« vor: Es braucht eine Verbindung zwischen Widerstand gegen den Krieg, inklusive Gehorsamsverweigerung, Desertion und Sabotage, mit den gewerkschaftlichen, feministischen, LGBTIQ-, antikolonialen, antifaschistischen und ökologischen Kämpfen genauso wie mit den Mobilisierungen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das würde eine vielfältige, aber zugleich konvergierende Bewegung erzeugen, die, wie in Chile, eine allgemeine soziale Erhebung nach sich ziehen und in Spanien, der EU und hoffentlich auch in Russland neue Formen von »Volksmacht« schaffen könnte. Im Fall Spaniens würden wir hier von einer emanzipatorischen und antifaschistischen Demokratie sprechen, von einem Kampf gegen den Nexus zwischen Krieg, Austerität, Reichtumskonzentration und Autoritarismus, von einem Kampf für eine föderale Republik. Das wäre genau das, was die 2011 entstandene Bewegung 15-M als neu und machbar formuliert hatte – und was bis heute weder von den sozialen Bewegungen noch der politischen Linken eingelöst werden konnte.

Dieses Gespräch erschien erstmals im spanischen Magazin CTXT – Contexto y Acción und wurde von Pablo Iglesias geführt. Der Politikwissenschafter gehörte zu den zentralen Gründungsfiguren der spanischen Partei Podemos, deren Generalsekretär er von 2014 bis 2021 war. In den Jahren 2020 und 2021 fungierte er als einer der vier Vizeministerpräsidenten der spanischen Regierung. Seit seinem Rückzug aus der Politik im Frühjahr 2021 betätigt Iglesias sich als reichweitenstarker Kommentator und Podcaster.

Aus dem Spanischen von David Mayer.

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