»Eine Geschichte von Niederlagen«

von Tyma Kraitt

Der streitbare Schriftsteller und Historiker Tariq Ali im Gespräch über Joe Biden, die extreme Mitte und darüber, warum Linke ihre Politik nicht verstecken sollten.


3040 wörter
~13 minuten

Tyma Kraitt | Das Jahr 2020 ist eines der multiplen Krisen. Es gibt allerdings aus Sicht liberaler Medien Grund zum Aufatmen: Donald Trump hat die US-Präsidentschaftswahlen verloren. Was können wir in diesen unsicheren Zeiten von einer zentristischen Biden-Regierung erwarten?

Tariq Ali | Grund zum Aufatmen hatten vor allem Europas Eliten. Sie schämten sich für Trump – manchmal aus den richtigen Gründen und manchmal aus den falschen. Trump konnte sein Versprechen, die US-Truppen aus unterschiedlichen Teilen der Welt heimzubringen, nicht einlösen. Dennoch ist er der einzige US-Präsident der letzten Jahrzehnte, der keinen neuen Krieg begonnen hat. Im Gegensatz etwa zu George Bush Senior mit der Invasion des Irak während des Golfkrieges 1990/91. Auch dessen Nachfolger waren in Kriege verwickelt oder brachen sie vom Zaun. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dachten sie nämlich, sie hätten freie Hand. Trump hingegen hatte die Angewohnheit, Wahrheiten zu sagen, wenn er provoziert wurde. So geschehen in einem Interview bei Morning Joe auf dem rechten TV-Sender Fox News. Darin wurde er gefragt, warum er ein freundschaftliches Verhältnis mit den Russen und Putin pflegt, da diese doch für den Tod vieler Menschen verantwortlich seien. Und Trump leugnete dies nicht, stattdessen entgegnete er »genauso wie wir«. Und allein dass er das ausgesprochen hatte, sendete Schockwellen in Richtung seiner demokratischen Gegner. Er sprach nämlich etwas aus, worüber nicht geredet wird – denn wenn im Auftrag der USA Menschen getötet werden, sind das koschere Morde. Sie gehen in Ordnung. Trumps plumpe Direktheit machte die Liberalen verrückt. Mit Biden heißt es wiederum business as usual. Wir können nicht genau sagen, was er vorhat, ihn jedoch an seiner bisherigen Politik messen. In Lateinamerika wird er wie schon sein Vorgänger recht aggressiv sein. In Europa könnte es hinter den Kulissen mehr Einigungen mit einzelnen Ländern geben. Aber die Europäer werden ihn unterstützen, wie schon die US-Präsidenten davor. Ich erwarte keine ernsthaften Veränderungen, nur Kosmetik. Hier und da ein wenig Make-up, um den Imageschaden, den Trump angerichtet hat, zu überdecken. 

TK | Was ist mit Trumps internationalen Verbündeten wie Jair Bolsonaro oder Boris Johnson? Wird Biden das Verhältnis zu Ländern wie Großbritannien oder Brasilien neu bewerten?

TA | Ich glaube nicht, dass die US-Geheimdienste und das Pentagon so unzufrieden mit Jair Bolsonaro sind. Warum auch? Lula da Silva ging ihnen auf die Nerven, weil er sich nicht fügte. Lula ließ nicht zu, dass Brasilien oder das brasilianische Militär im Auftrag der USA in Nachbarländern wie Bolivien intervenierte. Bolsonaro ist ganz und gar ihr Mann. Und in Europa werden auch Boris Johnson und andere Rechte weiterhin ein freundschaftliches Verhältnis zu den USA pflegen. Im Falle Großbritanniens besteht einfach auch eine Anbindung über die Nato, über Geheimdienste und über gemeinsame politische Ziele. Die wirtschaftliche Kooperation mit den USA hat außerdem aufgrund des Brexit an Bedeutung gewonnen. Darum werden auch die Konservativen nicht am Verhältnis zu den USA rütteln. Die eigentlich spannende Frage ist das Verhältnis zu Deutschland. Wir haben eine Situation, in der Deutschland die bedeutendste Volkswirtschaft Europas ist, während sein politischer Spielraum eingeschränkt bleibt – ersichtlich an der Präsenz von US-Stützpunkten im Land. Damit war Deutschland international bisher auf Linie. Aber der Deckmantel der EU kann die deutsche Hegemonie nur mehr schwer übertünchen und das könnte in den kommenden Jahren vermehrt zu Widersprüchen führen. Eine andere sehr wichtige internationale Frage ist, was wird Biden in Hinblick auf China tun? Der Aufstieg Chinas ist eines der zentralen Merkmale des 21. Jahrhunderts. Wird der neue US-Präsident hier auf Entspannung setzen oder den Konfrontationskurs seines Vorgängers fortsetzen? Wir werden sehen. 

Ali gemeinsam mit der Schauspielerin Vanessa Redgrave auf einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg im März 1966 am Londoner Trafalgar Square. (Foto: AP1966 / AP / APA)

TK | Bei Donald Trump und Joe Biden haben wir es mit derart gegensätzlichen politischen Charakteren und Stilen zu tun, da fällt es schwer, keine großen Unterschiede zu sehen.

TA | Biden hat für seinen Wahlkampf mehr Spenden von der Wall Street lukriert als Trump und damit wäre eigentlich schon alles gesagt. Bidens Rolle als Knecht des US-Finanzkapitals ist festgelegt. Und wenn ich mir die kleine Anmerkung erlauben darf, Joe Biden ist eine bemitleidenswerte Figur. Er erinnert mich an Ronald Reagan. Während seiner späteren Amtszeit war Reagan geistig schon völlig weg – er landete in Guatemala und dachte, er sei in El Salvador. Darum musste die herrschende Elite in den USA ein Komitee zusammenstellen aus Leuten wie Dick Cheney und Donald Rumsfeld, die die USA im Hintergrund führten. Und Reagan hatte offenkundig kein Problem damit, er selbst stand ja politisch ebenso sehr weit rechts. Das wäre ein Szenario, das ich mir aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung auch bei Joe Biden vorstellen könnte. Aber alles in allem erwarte ich keine fundamentalen Veränderungen. Rassistische Entgleisungen wird es mit Biden natürlich nicht geben. Er ist im Gegensatz zu Trump kein Vertreter des traditionellen weißen Nationalismus Amerikas, der white supremacy, die in diesem Land, wie wir wissen, weit verbreitet ist. 

TK | Trump wurde zwar abgewählt, dennoch fielen die US-Wahlen für die Demokraten gar nicht befriedigend aus. Sie haben Sitze im Repräsentantenhaus verloren und den Senat nicht zurückerobert. Die Zentristen in der Partei machen die Linke und insbesondere die Black-Lives-Matter-Bewegung und deren »radikale« Forderungen dafür verantwortlich. Warum halten die Linken eigentlich der Demokratischen Partei weiterhin die Stange?

TA | Die Antwort liegt in den politischen Strukturen der US-Demokratie. Bekanntlich gab es in der Gründerzeit der Vereinigten Staaten innerhalb der jungen Führungselite eine große Debatte darüber, was für ein System etabliert werden soll. Einige liebäugelten mit einer britisch inspirierten Monarchie mit einem König George Washington an der Spitze. Dies wurde zum Glück von den meisten abgelehnt. Stattdessen setzte sich eine starke Präsidentschaft durch, die quasi eine Mischform darstellt, weil sie keiner direkten demokratischen Kontrolle untersteht. Und bis zum heutigen Tag wurde die Macht des Präsidenten immer weiter ausgebaut. Unabhängig davon, ob die Persönlichkeit im Amt schwach ist, die Institution der Präsidentschaft ist sehr stark. Der Senat kann natürlich eine Blockadehaltung einnehmen. Aber wir haben bereits erlebt, dass ein Grenzwall ganz ohne Unterstützung von Senat und Repräsentantenhaus gebaut wird. Die andere Besonderheit der US-Demokratie ist, dass es schlicht und einfach keinen Raum für eine dritte Partei gibt. Das Zwei-Parteien-System hat die demokratische Repräsentation faktisch monopolisiert. Das macht es neuen politischen Kräften sehr schwer, sich zu etablieren. Erinnern wir uns daran, dass die Sozialisten unter Eugene Debs 1912 bei den Wahlen auf etwa eine Million Stimmen kamen, diese aber null Sitze im Kongress brachten. Ich denke, ein System der proportionalen Repräsentation wäre auf bundes- und gesamtstaatlicher Ebene eine Möglichkeit, den Stillstand im Senat und Repräsentantenhaus aufzubrechen. Das Problem mit der Präsidentschaft hängt wiederum am Electoral College. Derzeit werden auch in den USA die Rufe lauter, dieses abzuschaffen. Das Electoral College wurde nämlich aus Furcht vor Demokratie geschaffen und nicht, um sie zu schützen oder auszubauen. Es ist wirklich bizarr, dass es dieses Wahlmännerkollegium überhaupt noch gibt. 

Die US-Linke in all ihren Schattierungen sollte sich meiner Meinung nach darauf konzentrieren, Städte und Bundesstaaten zu gewinnen. Für mehr als das sind sie nicht stark genug. Aber dass sich jetzt Frauen wie Alexandria Ocasio-Cortez, Rashida Tlaib, Ilhan Omar und andere Linke einen eigenen Block innerhalb der Demokratischen Partei geschaffen haben, ist das Resultat politischer und struktureller Wirklichkeiten. Fakt ist aber auch, dass alle vier Jahre wieder die Frage nach dem kleineren Übel aufkommt und dass viele Leute auch dem kleineren Übel mittlerweile die Unterstützung verweigern. 

TK | Das heißt aber, Sie sehen Spielräume für progressive Politik in den USA.

TA | Es sind interessante Zeiten in den USA angebrochen. Das meine ich vor allem in Bezug auf die Linke, die meiner Meinung nach viel besser dasteht als jene in Europa, die eine Niederlage nach der anderen erleben musste. Ich fürchte aber, der Druck auf sie wird in der Demokratischen Partei unter Biden stärker werden. Es ist dennoch eine gute Sache, dass es diese erfolgreichen progressiven Politikerinnen in der Partei gibt. Sie sind sehr effektiv. Einen anderen, nicht minder erfolgreichen Weg schlug die Sozialistin Kshama Sawant in Seattle ein, wo sie als Stadträtin bestätigt wurde. Einerseits haben wir also Linke wie Sawant, die sich darauf konzentrieren, in Städten zu gewinnen, und andere, die sozusagen in den Staat expandieren. Es ist wichtig, dass Progressive sich stärker in den Vorwahlen einbringen und die Führung der Demokraten herausfordern, indem sie etwa Senatoren aus dem Amt treiben. Und das ist der eigentliche Grund, warum die linken jetzt von den rechten Demokraten angegriffen werden. Es ist lächerlich, diesen erfolgreichen Frauen die Schuld für das schlechte Abschneiden im Repräsentantenhaus und Senat zu geben. Zentristen haben verloren wegen der Politik, die sie vertreten, und nicht wegen der Politik, die andere vertreten. 

TK | Nicht wenige Beobachterinnen der Wahlen empfanden es als verstörend, dass dieses Mal viele Afroamerikaner, Latinos und andere marginalisierte Gruppen wie Muslime Donald Trump, einen offenen Rassisten, gewählt haben und nicht Joe Biden, der sich einer Identitätspolitik verschrieben hat. Kann es sein, dass die Demokraten Identitätspolitik mittlerweile ein wenig fetischisieren?

TA | Ohne Zweifel tun sie das. Das haben wir schon mit Barack Obama erlebt. Demokraten setzen auf Identitätspolitik, weil sie nichts anderes zu bieten haben. Dieses »Wir Demokraten sind besser für Latinos, Schwarze oder Frauen« ist in mancherlei Hinsicht auch nicht falsch, nur hat es viele Menschen, die sich davon angesprochen fühlen müssten, nicht überzeugt – etwa in Florida. Von den Hardcore-Katholiken unter den Latinos bis zu erzkonservativen Afroamerikanern, sie alle sind leider für die reaktionären Positionen der Republikaner etwa zur Homosexualität empfänglich. Trump zu wählen war für diese Leute sicherlich eine kulturelle sowie politische Reaktion gegen die Liberalen. Letztere priorisieren Identitätspolitik über alles andere, einfach aus dem Grund, weil sich in ihrem politischen Koffer ansonsten nur mehr der Neoliberalismus befindet. Und diese Wählerströme in Richtung Trump, er hat diesmal übrigens mehr Stimmen als Obama 2008 bekommen, sind ein weiterer Ausdruck davon. Wenn Joe Biden also davon spricht, das Land zu einen, dann ist das lächerlich. Biden mag zwar die meisten Stimmen bei einer Präsidentschaftswahl in der US-Geschichte bekommen haben, doch Trump hat die zweitmeisten gekriegt. Die Gräben sind sehr tief.

TK | Das sind sie bekanntlich auch innerhalb der Demokratischen Partei selbst. Der Konflikt zwischen Zentristen und Linken ist uns hier in Europa nicht fremd und vor kurzem ist er wieder in der britischen Labour-Partei eskaliert. Der linke Ex-Parteichef Jeremy Corbyn wurde von der Partei vorübergehend suspendiert. Wie konnte es so weit kommen?

TA | Ich schrieb vor einigen Jahren ein kleines Büchlein über die »extreme Mitte«, in der sich die Zentristen der Linken und Rechten wiederfinden. Dieses neue Zentrum ist extrem in der Art und Weise, wie es seine Interessen verteidigt. Nach außen drückt sich das durch Kriege aus, gegen die es in der Bevölkerung ursprünglich auch einmal großen Widerstand gab wie im Falle des Irakkriegs von 2003. Nach innen drückt es sich etwa durch Islamophobie aus. Der Islam ist ipso facto schlecht und die muslimischen Communities stellen dadurch per se ein Problem dar. In diesem Umfeld übernahm auf einmal Jeremy Corbyn die Führung von Labour – ein Politiker, der sein Leben lang gegen diese Kriege wie auch gegen Rassismus eingetreten ist. Und mit »gegen diese Kriege« meine ich gegen ausnahmslos jeden, auch den in Palästina. Hier finden wir eine Situation vor, in der in Israel eine ultrarechte Regierung an der Macht ist, die die Palästinenser zermürbt. Zugleich wird sie aber nicht gerne dafür kritisiert und wirft Kritikerinnen daher Antisemitismus vor. Auf diese Instrumentalisierung des Antisemitismus hat die extreme Mitte auch im Kampf gegen Jeremy Corbyn gesetzt – und damit meine ich nicht nur die Zentristen seiner eigenen Partei. Er hatte praktisch die gesamte Medienlandschaft gegen sich, von konservativ bis liberal. Selbst der bis dato unbekannte Armeechef Nick Carter wurde ins Fernsehen geladen, um vor einem Wahlsieg Corbyns zu warnen, da es sonst zu Meutereien in der Armee kommen könnte. Und das in der Heimat der »Mutter aller Parlamente«. Sie alle haben sich gegen Corbyn gestellt.

Aufgrund seines Engagements in der britischen Antikriegsbewegung wurde Ali über Jahrzehnte hinweg vom britischen Geheimdienst ausspioniert. (Foto: Sarah Lee / Eyevine / APA)

Die Ursache für Boris Johnsons Wahlsieg liegt jedoch auch in strategischen Fehlern der Labour-Linken. Ich kenne Jeremy schon seit vielen, vielen Jahren und weiß, dass nicht er, aber sein nahes politisches Umfeld dafür eintrat, das erste Referendum zum Verbleib in der Europäischen Union nicht anzuerkennen und eine zweite Volksabstimmung zu fordern. Ganz unabhängig davon, was man von der EU hält, ist es nun mal ein Fakt, dass die Mehrheit der Bevölkerung für den Brexit gestimmt hat. Und wie bei so vielen anderen Abstimmungen spielte der Rassismus eine Rolle, meiner Meinung nach aber nicht die tragende. Die Zustimmung für den Brexit war vor allem in den benachteiligten Regionen des Landes am stärksten. Es war die erste Gelegenheit für viele Menschen, den britischen Eliten in den Allerwertesten zu treten. Mit der Entscheidung, sich der extremen Mitte anzuschließen und das demokratische Votum nicht anzuerkennen, beging die Labour-Linke den politischen Suizid. 

TK | Welche Perspektiven bleiben Corbyn und der Linken in der Labour Party jetzt noch?

TA | Sie haben Jeremy erniedrigt, ihn dazu gebracht, sich zu entschuldigen und dann die Suspendierung revidiert. In die Fraktion wurde er trotzdem nicht wieder aufgenommen. Ob die Angriffe gegen ihn aufhören werden, hängt jetzt davon ab, wie er sich selber äußert. Wenn er ruhig bleibt, wird ihm nichts passieren. 

Was die Parteilinke generell betrifft, kann ich nicht sagen, ob sie irgendwelche Perspektiven hat – abgesehen davon, genauso still zu sein und die Führung in den kommenden drei Jahren nicht allzu sehr gegen sich aufzubringen. Für eine Vorstellung, die über dieses Szenario hinaus geht, fehlt es der Labour-Linken an Strategie und an Intelligenz, fürchte ich.

TK | Niederlagen haben nicht nur die Linken in Großbritannien gesehen. Es neigt sich gerade ein Jahrzehnt des globalen Widerstands gegen Tyrannei und Neoliberalismus dem Ende zu. Den Anfang machte vor zehn Jahren der Arabische Frühling, den Sie in Vergangenheit auch als »arabisches 1848« bezeichneten. Ihre düstere Prognose war richtig, all diese Erhebungen scheiterten. Was waren die Gründe dafür?

TA | Die Geschichte revolutionärer und fortschrittlicher Bewegungen ist eine von viel zu vielen Niederlagen und nur sehr wenigen Erfolgen – gerade weil es nicht einfach ist, fundamentale Veränderungen herbeizuführen. Die Revolutionen von 1848 wurden zwar geschlagen, das ist auch eine Parallele zu den arabischen Revolten von 2011. Es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied. Der Slogan von 1848 war Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Von Freiheit war auch im Arabischen Frühling die Rede, aber nicht von Geschwisterlichkeit im Sinne einer arabischen Einheit und auch nicht von Gleichheit im Sinne der sozialen Gerechtigkeit. Das gilt vor allem für Ägypten, wo ein Teil der Bewegung politisch vage blieb. Dies erwies sich als Fehler, da ein anderer signifikanter Teil der Bewegung sehr wohl ein politisches Programm hatte, nämlich die ägyptischen Islamisten. Die Muslimbruderschaft scheute auch nicht davor zurück, ihr Programm zu verbreiten, und hatte angesichts der brutalen Unterdrückung unter Mubarak viel Ansehen und Glaubwürdigkeit. Von außen wurden sie als am besten organisierte Gruppe wahrgenommen und so war es nicht verwunderlich, dass sie die ersten freien Wahlen gewannen. Das Problem: Neoliberal und machtversessen wie die Brüder waren, arrangierten sie sich mit ihren einstigen Folterknechten, anstatt diese abzustrafen. Sie brachten die Bevölkerung schließlich gegen sich auf und dies ermöglichte al-Sisi die Machtübernahme. Viele, die sich damals für die Absetzung der Muslimbrüder einsetzten, klagen heute darüber, dass es unter der Sisi-Diktatur schlimmer sei als unter Mubarak. Sie müssen sich aber auch der eigenen strategischen Fehler bewusst werden. Du kannst deine Politik nicht einfach hinter einer Bewegung verstecken, entweder du lässt sie raus oder sie wird verschluckt.

TK | Infolge des Arabischen Frühlings kam es weltweit zu großen Protestbewegungen wie etwa Occupy in den USA. Warum blieben die Erfolge dieser Bewegungen überschaubar?

TA | Wir sollten uns nicht zu sehr auf das letzte Jahrzehnt versteifen. Denn in den Jahren davor gab es große Erfolge der Linken bei Wahlen in Lateinamerika, in Venezuela, Bolivien, Brasilien und auch Argentinien. Wir dürfen diesen Kontinent nicht einfach vergessen. Auch hier gab es viele Parallelen zum arabischen Raum, etwa US-Interventionismus. Aber was man in Venezuela und Bolivien damals machte, war, neue Verfassungen auszuarbeiten. Und erst kürzlich brachte eine der größten Massenmobilisierungen in Chile der Rechten eine große Niederlage, als dort siebzig Prozent der Menschen dort für eine neue Verfassung und das Ende der alten aus der Pinochet-Diktatur stimmten. Auch wenn bittere Niederlagen eingesteckt werden mussten, wie der Fall von Evo Morales in Bolivien oder aber Jair Bolsonaros Übernahme Brasiliens, die progressiven Bewegungen in Südamerika erweisen sich als sehr resilient. Wir haben es hier mit einer hochgradigen Politisierung in diesen Bewegungen zu tun. Und diese Art der Politisierung habe ich bei Occupy und dessen europäischen Ablegern vermisst. Der Fokus lag mehr auf dem Besetzen von Raum und weniger auf Politisierung. Aber dennoch hat Occupy eine neue Generation von Aktivisten hervorgebracht, die sich heute in den Reihen der DSA, der Demokratischen Sozialisten Amerikas, finden, die mittlerweile abertausende Mitglieder haben. Und das ist eine gute Sache. Politisches Engagement bedeutet auch, dass den folgenden Generationen etwas hinterlassen wird. Es geht darum, eine Basis für etwas Neues zu schaffen.

Tariq Ali, geboren 1943 in Lahore, ist Autor, Filmemacher und Historiker. Er ist Mitglied der Redaktion der New Left Review und schreibt regelmäßig in The Guardian. Zuletzt auf Deutsch erschienen: Die extreme Mitte. Wer die westliche Welt beherrscht (Promedia, 2020).

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