Frieden in weiter Ferne

von Sonja Luksik

Editorial TAGEBUCH 2|2023

Wofür sich Kiew bereits wappnete und wovor US-Geheimdienste am Vortag warnten, wird in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 traurige Gewissheit: Russland greift die Ukraine an. Früh ist zu vernehmen, dass Putins »Spezialoperation« Krieg bedeutet. Und dass dieser Krieg globale Umwälzungen in unvorstellbarem Ausmaß und in allen gesellschaftlichen Bereichen mit sich bringen wird. Es handelt sich um eine Prognose, die sich ebenso bewahrheiten sollte wie jene, dass der russische Angriffskrieg kein schnelles Ende finden wird.

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass der russische Widerstand gegen den Krieg von Anfang an unter denkbar schlechten Vorzeichen stand: Zum Zeitpunkt des Einmarschs geht der Kreml bereits seit geraumer Zeit mit voller Härte gegen Regimegegnerinnen vor. Nun werden auch Menschen, die gegen den Krieg protestieren, verfolgt und bestraft. Trotz schwierigster Voraussetzungen kommt es in den Tagen und Wochen nach Kriegsbeginn zu Demonstrationen in mindestens 50 Städten. Die Polizei schlägt die Proteste brutal nieder, von Mal zu Mal versammeln sich weniger Menschen auf den Straßen von Moskau, Sankt Petersburg und Nowosibirsk. Gesetzesverschärfungen, die für die »Diskreditierung der Armee« bis zu 15 Jahre Haft androhen, bewirken, dass öffentliche Anti-Kriegs­Aktionen nur mehr vereinzelt stattfinden. Der Widerstand verlagert sich einerseits in den digitalen Raum, andererseits setzen Aktivisten vermehrt auf Sabotage.

Im März letzten Jahres sorgen Berichte, wonach belarussische Bahnarbeiter das Schienennetz zwischen Belarus und der Ukraine unterbrochen haben, für Aufsehen. Die Eisenbahninfrastruktur und damit Lieferungen von Militärgütern entwickeln sich in den darauffolgenden Monaten zu den wichtigsten Sabotagezielen russischer Kriegsgegnerinnen. Offensichtlich soll das militärische Vorankommen gestört werden. Doch geht es immer auch darum, der Bevölkerung und allen voran den russischen Soldaten die Illegitimität des Krieges aufzuzeigen. Trotz aller im vergangenen Jahr herbeigeredeter und -gewünschter Krisen Putins ist die Unterstützung für seine »Spezialoperation« im eigenen Land schließlich nach wie vor groß. Größere Risse im nationalistischen Gefüge zeigen sich zuletzt im September, als der Präsident eine Teilmobilmachung verkündet. In zahlreichen russischen Städten kommt es erneut zu Demonstrationen, die 1.400 Festnahmen nach sich ziehen.

Auf ukrainischer Seite antwortet die Bevölkerung zunächst mit massenhaftem Widerstand gegen die Invasion – von den Demonstrationen gegen die Besetzung Chersons bis zu den Molotow-Cocktails, die fieberhaft in Privatwohnungen hergestellt werden. Doch mit zunehmender Dauer des Krieges und dem immer aktiveren – und keineswegs uneigennützigen – Engagement des geopolitischen Blocks rund um USA, EU und Nato, der mit dem russischen und dem ihn stützenden chinesischen Imperialismus konkurriert, droht die ukrainische Bevölkerung mehr und mehr zu einer Schachfigur im innerimperialistischen Hauen und Stechen degradiert zu werden.

Derzeit zeichnet sich kein Ausweg aus der kriegerischen Gegenwart ab. Nach den Reden Putins vor hohen Militärs in Moskau und Selenskyjs vor dem US-Kongress in Washington kurz vor Jahresende scheint ein Waffenstillstand in noch weitere Ferne gerückt zu sein. »Für das Verhältnis von Krieg und Diplomatie gilt nun einmal, dass eine Kriegspartei erst dann auf Verhandlungen umschwenkt, wenn die eigenen Ziele auf andere als militärische Weise besser verfolgt werden können«, konstatiert Lutz Herden in unserer Titelgeschichte zum ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Herden legt dar, warum derzeit keine der Kriegsparteien, aber auch keiner ihrer jeweiligen Verbündeten »den Krieg voreilig dem Frieden opfern will«.

Zuletzt noch eine Notiz in eigener Sache: Ab sofort wird das TAGEBUCH von einer erweiterten Herausgeber-Runde getragen. Neben Samuel Stuhlpfarrer stehen nun auch Trautl Brandstaller, Alfred Noll, Lukas Oberndorfer und Hazel Rosenstrauch für den publizistischen Anspruch, links und unabhängig die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen zu suchen. Die Letztgenannten tun dies in ihrer Funktion als Vorstände des Vereins »Freund*innen der Zeitschrift TAGEBUCH«, der in Zukunft die Verbindung zwischen dieser Zeitschrift und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern verstärkt kultivieren soll. Mehr dazu demnächst.

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