David Mayer | Das Wort Austerität ist im deutschsprachigen Raum erst seit der Eurokrise ab 2010 einer breiteren Öffentlichkeit geläufig. Es wird meist mit einer Politik der Ausgabenkürzung und Budgetdisziplin assoziiert. In deinem jüngst erschienenen Buch The Capital Order dagegen schreibst du, dass Austerität eine viel längere Geschichte hat.
Clara Mattei | In meinem Buch bringe ich zwei Argumente vor. Erstens ein historisches, zu den 1920er-Jahren. Anhand von England und Italien versuche ich zu zeigen, wie in einer Situation der wirtschaftlichen Krise, neuer demokratischer Rechte, einer starken Arbeiterbewegung und heftiger sozialer Kämpfe ein Paket aus wissenschaftlichem Diskurs, ideologisch-politischer Rhetorik und wirtschaftspolitischen Maßnahmen geschnürt wurde, das beinahe eins zu eins dem entsprach, was man später als Austeritätspolitik bezeichnen sollte.
Das zweite Argument ist ein prinzipielleres: Austerität ist ein strukturelles Merkmal unseres sozioökonomischen Systems, also des Kapitalismus. Sie tritt nur sichtbarer hervor, sobald dieses System infrage gestellt wird, zu einem umkämpften Gegenstand wird – was eben im Zuge des Ersten Weltkriegs geschah, also jener Zeit, in der der Staat, um die Kriegsmobilisierung zu sichern, erstmals massiv in die Wirtschaft intervenierte und dabei die fundamentalen Säulen des Wirtschaftssystems politisierte. Unbeabsichtigterweise. Das galt sowohl für das Lohnverhältnis, das nun staatlich reguliert wurde, als auch für die Eigentumsverhältnisse, die nun nicht mehr sakrosankt bzw. »natürlich« waren. In dieser historischen Phase, als eine große Zahl an Menschen gegen den Kapitalismus protestierte und Forderungen nach alternativen Formen der Organisation von Produktion und Distribution weitverbreitet waren – in dieser Phase, wird Austerität erstmals sichtbar. Und zwar als machtvolle Gegenoffensive, um den Kapitalismus vor jedweder Änderung hin zu einem anderen ökonomischen System zu schützen.
DM | Für dich ist Austerität also mehr als bloße Budgetkürzungspolitik?
CM | In der Tat, meine Idee ist, dass Austerität ein ständiges Merkmal des Kapitalismus, quasi seiner DNA eingeschrieben ist. Der Begriff beschreibt alle Politiken und Ideologien, um das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten von Ersterem zu verschieben bzw. jede Hinterfragung oder Ermächtigung durch die Arbeitenden wieder zurückzudrängen. Austerität allein auf Ausgabenkürzungen zu beschränken ist aus meiner Sicht zu oberflächlich. Es wird bei genauerer Betrachtung zum Beispiel schnell deutlich, dass Austeritätspolitik durchaus mit Budgeterhöhungen einhergehen kann, insbesondere für den Sicherheitsapparat oder einen Krieg – etwas, das wir sowohl ab den späteren 1920er-Jahren beobachten können als auch in der aktuellen Situation im Zuge des Ukraine-Kriegs kennzeichnend zu werden droht.
DM | Austerität ist also der Name für jede Politik, die auf die Absicherung und Verbesserung von Kapitalverwertungsbedingungen gerichtet ist, als Abwehrschild gegen Forderungen von unten, im Grunde also eine politische Gesamtstrategie im Klassenkampf?
CM | Ja, so meine ich es. Deshalb unterscheide ich auch drei grundlegende Dimensionen von Austerität: erstens die fiskalische Austerität, die Ebene der Staatsfinanzen; also wofür Mittel bereitgestellt werden und wofür nicht, in welchem Maße der Staat Schulden zurückzahlt – was immer einer Präferenz für eine kleine Minderheit von kapitalstarken Gläubigern gleichkommt – sowie die Ausrichtung der Steuerpolitik, progressiv oder regressiv. Zweitens die monetäre Austerität, also das, was wir gerade wieder erleben – die Erhöhung der Leitzinsen, was jenen zugutekommt, die große Vermögen besitzen, während für die Mehrheit höhere Kredit- und Hypothekenzinsen zu tragen sind. Hinzu kommt, dass monetäre Austerität, das kann man sehr gut für die 1920er-Jahre in Großbritannien beobachten, eine Rezession herbeiführt, und zwar beabsichtigt, um die erstarkten Arbeiter und Arbeiterinnen in ihrer Position wieder zu schwächen. Auch das erinnert an die aktuelle Situation, gerade in den USA, aber gewiss auch in naher Zukunft im Euroraum – steigende Zinsen als Hebel, um letztlich mehr Arbeitslosigkeit zu erzeugen und damit der gestärkten Position der Arbeitnehmer, die sich in vielen Ländern in den letzten Monaten ja auch durch in die Höhe geschnellte Streikzahlen zeigt, entgegenzuwirken. Die »Vielen« disziplinieren, ihren Konsum einschränken und sie produktiver werden lassen, und die »Wenigen« bevorzugen – all das, um die herrschende Ordnung zu stabilisieren. Drittens spreche ich von »industrieller Austerität«, was Verhältnisse beschreibt, die uns mittlerweile so gewohnt erscheinen, dass wir ihre spezifischen Charakteristika und ihre politische Bedingtheit gar nicht mehr recht erkennen können: die Schwächung von Gewerkschaften, Angriffe auf Sozialleistungen, Deregulierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen sowie, besonders wichtig, Privatisierungen. In gewisser Weise könnte man sagen, dass »Austerität« in den letzten Jahrzehnten synonym mit »Wirtschaftspolitik« allgemein geworden ist. Auch deshalb ist der historische Blick lehrreich, denn er zeigt, dass es sich um eine gewordene, erzeugte, aber auch veränderbare Konstellation handelt.
DM | Zurück zur Idee, dass Austerität strukturell ist und nur in einer gewissen Phase sichtbar wird. In deinem Buch sprichst du davon, dass Austerität in den 1920er-Jahren »erfunden« worden sei. Wie meinst du das?
CM | Die Rede von der Erfindung war in dieser Hinsicht etwas gewagt. Und widersprüchlich insofern, als etwas, das strukturell verankert ist, ja nicht erst erdacht bzw. erschaffen werden muss. Worauf ich aber hinauswollte, ist, dass Austerität nicht in allen historischen Momenten die gleiche war, weil ja auch der Kapitalismus eine Entwicklung vollzogen hat. Das Neue in den 1920er-Jahren war aus meiner Sicht die Formulierung und Umsetzung einer Austeritätsideologie im Sinne einer kohärent gedachten Palette an Maßnahmen. Man sollte nicht vergessen, dass bis zum Ersten Weltkrieg die Besitzenden in den maßgeblichen Ländern noch mehr oder weniger unbehelligt von der Mehrheit regieren und ihre Interessen durchsetzen konnten. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Situation fundamental: Politisch wird das Wahlrecht für alle durchgesetzt, auf der Ebene der sozioökonomischen Kräfteverhältnisse kommt es zu einer bis dahin beispiellosen Mobilisierung der Menschen. Diese Forderung nach Teilhabe, politisch und ökonomisch, erfordert eine Antwort, eine neue Qualität in der Formulierung von Interessen im Sinne der Ordnung des Kapitals. Die neue Frage lautet: Wie kann man – durch Überzeugung oder Zwang – die mit den Opfern der Kriegsmobilisierung verbundenen Versprechen, die in der Luft liegenden Hoffnungen und Erwartungen wieder zurückdrängen?
DM | In diesem Prozess formiert sich auch die Ökonomie als Wissenschaft neu?
CM | Ja, mit dieser grundlegenden Verschiebung kommt auch jenes Paradigma auf, das im englischsprachigen Raum als »pure economics« bekannt ist und die Idee ins Spiel brachte, man könne nun die bis dahin als »politische Ökonomie« gedachte Beschäftigung mit dem wirtschaftlichen Geschehen als neutrale, objektive, rein sachliche Wissenschaft betreiben. Deren Vertreter stünden als Experten über den Interessen. Das Wegstreichen des Attributs »politisch« aus dem Selbstverständnis der Disziplin ist also eine grundlegende Verschiebung, denn damit steigt der Wahrheitsanspruch sprungartig an. Politische Maßnahmen können sich fortan mit der »unumstößlichen« Expertise einer »neutralen« Wissenschaft legitimieren.
DM | Du zeichnest anhand von Italien und Großbritannien minutiös nach, wie in den 1920er-Jahren die Figur des »Technokraten« aufkommt und eng verflochtene Allianzen zwischen akademischen Gelehrten und höheren Staatsfunktionären entstehen, die dann auch in die Massenmedien hineinwirken.
CM | Das ist eine faszinierende Geschichte, denke ich. Da geht es um zweierlei: die ideologischen Begründungen für Austerität, aber auch die ideologische Rechtfertigung für die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften, wie wir sie heute kennen. Da sehen wir zum Beispiel, dass – trotz der neuen Unanfechtbarkeitsbehauptung der »objektiven« Expertenwissenschaft – das moralische Element eine zentrale Rolle spielt. Es geht um die Zähmung der »unangemessenen« Ansprüche der »Vielen«, dass die Leute über ihre Verhältnisse gelebt hätten, dass alle Opfer zum Wohl der Allgemeinheit erbringen müssten. Die zentralen, werterzeugenden Akteure des wirtschaftlichen Geschehens sind nicht mehr die »Arbeitenden« – wie in der klassischen politischen Ökonomie von Ricardo, Smith und Marx –, sondern, in Varianten, die »Unternehmer«, die »Investoren« oder die »Sparer«. Diese sind die Verkörperung des Homo oeconomicus, sie handeln als Individuen, nicht als Klasse, ihre Überlegenheit ist letztlich auch eine moralische, sie können sich in »Verzicht« üben, investieren, damit zur Quelle der Wertschöpfung werden. Die Arbeiter sind in diesem Prozess nachgeordnet, neigen moralisch immer zu Zügellosigkeit. Austerität ist daher eine rationale und notwendige Politik, um Ressourcen dorthin zu kanalisieren, wo tatsächlich Wertschöpfung geschieht. Zugleich ist es wirklich erstaunlich, in welchem Maße diese neue, »reine« Wissenschaft in moralischen Kategorien dachte und aus ihrem Klassenstandpunkt kein Hehl machte.
Die meisten gedanklichen Figuren, die damals formuliert wurden, kennen wir bis heute zur Genüge. Der Unterschied ist vielleicht, dass in der Zwischenkriegszeit der zugrundeliegende Klassenkonflikt offenkundiger war, allgegenwärtig schien, während wir heute in einer Situation leben, in der dieser den meisten verschleiert erscheint. Die Objektivitätsbehauptung der Experten ist damit mächtiger geworden, weil sie heute auf vergleichsweise große Akzeptanz stößt.
»Das Entscheidende Und Faszinierende An Den 1920er-Jahren War, Dass Es, Im Gegensatz Zu Heute, Eine Breite Und Vielstimmige Diskussion Über Alternativen Zur Bestehenden Kapitalistischen Ordnung Gab Und Damit Auch Ganz Unterschiedliche Vorschläge, Wie Man Das Inflationsproblem Lösen Könnte.«
DM | Es gab in den 1920er-Jahren ein Phänomen – auch das eine Parallele zur aktuellen Situation –, das politisch für die Verfechter von Kapitalinteressen wie ein »Geschenk der Götter« erscheinen musste: die Inflation. Diese betrifft ja nicht nur Kapitalbesitzer, sondern auch die Lohnabhängigen, schafft die Möglichkeit einer konsensualen Allianz.
CM | Die Tatsache, dass wir alle marktabhängig leben – heute wesentlich mehr noch als in den 1920er-Jahren –, bedeutet eine hohe Vulnerabilität gegenüber Inflation, und das heißt natürlich, dass jeder, der eine Eindämmung der Inflation verspricht, für seine Austeritätspolitik auf Konsens hoffen kann – sie ist, wie du gesagt hast, ein »Geschenk der Götter« für die herrschende Klasse, weil ihr Interesse damit als Allgemeininteresse dargestellt werden kann. Und tatsächlich ist es so: Wenn wir die kapitalistische Marktwirtschaft als die einzig mögliche Gesellschaftsform erachten, dann ist monetäre Stabilität äußerst wichtig, dann muss alles unternommen werden, um diese zu sichern. Das Entscheidende und Faszinierende an den 1920er-Jahren war ja, dass es, im Gegensatz zu heute, eine breite und vielstimmige Diskussion über Alternativen zur bestehenden kapitalistischen Ordnung gab und damit auch ganz unterschiedliche Vorschläge, wie man das Inflationsproblem lösen könnte. Und zwar ohne auf das zurückzugreifen, was man als »dear money« bezeichnet, also eine Politik des »teuren Geldes«. Diese historischen Diskussionen umfassten nicht nur verschiedene Planvorstellungen und Vorschläge, für wichtige Bereiche der Ökonomie die Marktmechanismen zu überwinden, sondern auch reformorientiertere Lösungen, wie eine höhere Besteuerung der Reichen oder die Löhne zu regulieren, mit einem Wort: politische Lösungen für das Problem der Inflation zu suchen.
Tut man das nicht, dann muss man die Zinsen erhöhen, was die Geldstabilität wieder herstellt, aber meines Erachtens nicht so direkt, wie es die etablierte Theorie haben will. Denn allgemein kann man sagen: Monetäre Stabilität erfordert auch Klassenstabilität, also ein für die Kapitalakkumulation förderliches Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Das ist genau das, was zurzeit im Argen liegt. Alle klagen, da unterschieden sich Keynesianer und neoklassische Ökonomen nicht voneinander, dass der momentane Arbeitsmarkt zu angespannt ist, das heißt die Arbeitenden am längeren Hebel sitzen.
DM | Auch wenn diese verbesserte Verhandlungsposition im historischen Vergleich sich eher auf individueller Ebene manifestiert, nicht kollektiv, im Sinne gewerkschaftlicher Wirkmacht …
CM | Das stimmt. Allerdings waren gerade in den USA oder Großbritannien in den letzten Monaten fast spektakuläre gewerkschaftliche Organisierungsschübe zu beobachten – unter anderem bei so bekannten und für den Kapitalismus der letzten Jahre prototypischen Unternehmen wie Starbucks oder Amazon. In den sich nun organisierenden Milieus ist meiner Einschätzung nach auch vielen unmissverständlich klar, dass die nun gegen die Inflation gesetzten Zinserhöhungen der Fed als unverhohlener Angriff auf die gestiegene Verhandlungsmacht der Arbeitenden gemeint sind.
DM | Wechseln wir zum anderen, nicht auf Konsens ausgerichteten Modus der Austerität. Wie lässt sich die Verzahnung von Austerität und Repression in deiner historischen Studie umreißen?
CM | Neben Großbritannien untersuche ich Italien, das ja seit 1922 unter faschistischer Herrschaft stand. Hier lässt sich sehr genau nachvollziehen, wie eine Gruppe von Ökonomen und Experten, die sich als liberal verstanden, unter dem Schutz Mussolinis die typische Palette von Austeritätsmaßnahmen umsetzen konnte. Zu diesem »Schutz« zählten direkte staatliche Interventionen in die Lohnentwicklung, die Illegalisierung von Streiks und ein hartes Vorgehen bei jedwedem Arbeiterwiderstand – nicht zu reden von der im faschistischen Italien um sich greifenden politischen Verfolgung. Es zeigte sich – ähnlich wie bei späteren Erfahrungen im 20. Jahrhundert, Stichwort Chile unter Pinochet – auch hier: Eine liberale, kapitalfreundliche wirtschaftspolitische Ausrichtung und autoritäre politische Regime sind voll kompatibel. Das gilt auch auf der Ebene der Eliten: So unterstützte Luigi Einaudi, später erster regulär gewählter Staatspräsident nach Mussolini und stets als Liberaler eingestuft, Mussolini wegen seiner Wirtschaftspolitik voll und ganz.
Zugleich, und das ist die zweite Botschaft meines Buches, gibt es neben den Ähnlichkeiten in der grundsätzlichen Ausrichtung auf Austerität auch Zusammenarbeit oder gar Allianzen zwischen Ländern, die als politisch grundverschieden erachtet wurden. Der Blick auf Großbritannien und Italien ist da erneut sehr erhellend: Mussolini konnte seine Herrschaft auch dank der Unterstützung durch das liberale Establishment, insbesondere in Großbritannien, festigen; dieses lobte seine Austeritätspolitik nicht nur symbolisch, sondern es kam auch zu kräftigen Kapitalflüssen nach Italien.
»EINE LIBERALE, KAPITALFREUNDLICHE WIRTSCHAFTSPOLITISCHE AUS- RICHTUNG UND AUTORITÄRE POLITISCHE REGIME SIND VOLL KOMPATIBEL. DAS GILT AUCH AUF EBENE DER ELITEN: SO UNTERSTÜTZTE LUIGI EINAUDI, SPÄTER ERSTER REGULÄR GEWÄHLTER STAATSPRÄSIDENT ITALIENS UND STETS ALS LIBERALER EINGESTUFT, MUSSOLINI WEGEN SEINER WIRT- SCHAFTSPOLITIK VOLL UND GANZ.«
DM | Das wird manche insofern überraschen, als »faschistische Wirtschaftspolitik« eher mit staatlichen Eingriffen, expansiver Ausrichtung und der Vorbereitung auf Krieg verbunden wird. Adam Tooze hat in einem Essay zu deinem Buch gar gemeint, man könne die liberalen ökonomischen Bündnispartner Mussolinis in den 1920er-Jahren als Leute betrachten, die das Regime von seinen militaristischen Tendenzen »bewahren« wollten. Wie siehst du diese Verschiebung der Wirtschaftspolitik im Faschismus?
CM | Die unter Wirtschaftshistorikern des faschistischen Italien häufig getroffene Unterscheidung zwischen einer Laissez-faire-Phase bis 1925 und einer »korporatistischen«, als »typisch« gesehenen Phase danach möchte ich hinterfragen. Geht man von meinem Verständnis von Austerität aus – nämlich als Bündel politischer Maßnahmen zur Absicherung von Kapitalakkumulation –, dann werden die Kontinuitäten zwischen diesen beiden Phasen sichtbar. Der Begriff des Korporatismus ist ja schillernd, allein im Italien der Zwischenkriegszeit gab es dutzende programmatische Spielarten, einige davon stark auf soziale Zugeständnisse ausgerichtet. Wie die jüngere Forschung genau aufgezeigt hat, bot der Korporatismus, der sich bei Mussolini durchgesetzt hat, im Gegensatz zu den Mythen kaum reale Zugeständnisse an die Arbeiter und Arbeiterinnen, wies dagegen alle Kennzeichen von Austerität auf – die ja wie gesagt eine militärische Ausgabenexpansion keineswegs ausschließt. Der »soziale Mussolini« war eine Propaganda-Legende. Hinter der Unterscheidung zwischen verschiedenen wirtschaftspolitischen Phasen steckt auch ein politisches Interesse: Jene wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die den heutigen frappierend ähnlich sind, die sollen kein »richtiger« Faschismus und damit akzeptabler gewesen sein.
DM | Wenn Staatsinterventionismus mit Austerität vereinbar ist, dann wäre ja auch die gedanklich fest verankerte Opposition zwischen Keynesianismus und einer neoliberal ausgerichteten Wirtschaftspolitik nicht mehr so starr?
CM | In der Tat sehe ich es so, dass die Unterschiede geringer sind als bisher angenommen. Keynesianismus im politischen Sinne ist nur dann möglich, wenn die Arbeitenden eben nicht die Oberhand, sondern eher Niederlagen und Momente drückender Defensive erfahren haben. In dieser Hinsicht konnte der als protokeynesianisch geltende New Deal in den USA nur umgesetzt werden, weil die Arbeiter und Arbeiterinnen davor von der Großen Depression überwältigt worden und aller weiterreichenden Hoffnungen verlustig gegangen waren. Auch das mit dem Begriff Keynesianismus assoziierte Nachkriegsarrangement setzte eine »befriedete« Arbeiterklasse voraus, die sich ohne größere, gar revolutionäre Teilhabeansprüche in die Ordnung fügte. Wenn es Umwälzung und Unruhe gibt, wie nach 1917/18 in Europa, dann kann man keinen Keynesianismus bzw. Politik der wohlfahrtsorientierten Staatsintervention machen, das würde schnell eskalieren und die Ordnung des Kapitals infrage stellen. Die Grenze des Keynesianismus ist immer die Kontrollierbarkeit und Zähmung der Arbeitenden.
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