Klärungsbedarf

von Kathrin Niedermoser

Editorial TAGEBUCH 3|2023

Es gibt nur wenige Themen, über die Linke lieber und leidenschaftlicher streiten als darüber, was links ist. Dieser Befund hat schon lange Gültigkeit, und er trifft auch heute noch zu. Und das, obwohl man meinen könnte, dass innerlinke Selbstfindungsdebatten derzeit nebensächlich wären. Schließlich weiß man vor lauter Krise kaum mehr, wo einem der Kopf steht: Die Teuerung ist weiterhin außer Kontrolle, für zahlreiche Menschen ist das Heizen nicht mehr leistbar. Die »Festung Europa« wird weiter ausgebaut, und an ihren Außengrenzen finden Menschen täglich den Tod. Über ein Jahr ist bereits vergangen, seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, und ein Ende des Kriegsgeschehens ist nach wie vor nicht absehbar.

Dennoch – das gehört zu den »guten« Paradoxien linker Politik – sind gerade angesichts des Dringlichen, Akuten, oft auch Unerträglichen solch grundsätzliche Fragen nicht Nebensache, sondern geboten. Nur so lässt sich zumindest eine Aussicht darauf erarbeiten, wieder anschlussfähiger und wirkmächtiger zu werden. Deshalb finden Sie in dieser Ausgabe gleich zwei Versuche, Positionen zu der Frage »Was ist links?« auszuloten. Alex Demirović stellt seine Überlegungen über einen historischen, gegenwärtigen und, ja auch, in die Zukunft gerichteten Begriff von »links« zur Diskussion. Gleichsam im Dialog dazu sind Nancy Frasers Antworten auf die Frage »Was ist Sozialismus?«. Ihr neues Buch Cannibal Capitalism, eine fulminante Abrechnung mit dem zeitgenössischen Kapitalismus, erscheint Mitte März in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp. Wir bringen das letzte Kapitel daraus im Vorabdruck. Das Sujet der beiden Beiträge ist verwandt, die Schlussfolgerungen auch: Wenn es eine andere Welt abseits des Kapitalismus zu gestalten gilt, dann braucht es alle und alles: die Erfahrungen aus sozialen Kämpfen, programmatisches Denken und politische Organisierung.

An sozialen Kämpfen mangelt es derzeit jedenfalls nicht. In Großbritannien findet eine der größten Streikwellen der letzten Jahrzehnte statt, und auch in Frankreich setzen sich die Beschäftigten branchenübergreifend zur Wehr. Selbst hierzulande haben nach den Eisenbahnern nun die Beschäftigten im Gesundheitsbereich auf den Tisch gehauen, in einzelnen Gewerkschaften lässt sich ein strategisches Umdenken erkennen. Die Ereignisse im deutschen Lützerath haben wiederum gezeigt, dass klimaschädliche Projekte wie der dort geplante Braunkohleabbau nur noch gegen massiven Widerstand durchgesetzt werden können.

Aber auch auf der klassischen institutionellen Ebene zur Ermittlung von Kräften und Verhältnissen, bei Wahlen, sieht man in Österreich beides, bedenkliche Trends und bemerkenswerte Gegensignale. Folgt man dem Ergebnis der Landtagswahlen in Niederösterreich, wo die FPÖ große Zugewinne verbuchte, wird leider klar: Der Ruf nach Repression und Strafe nach innen und das Bedienen der Gelüste nach Ausgrenzung und dem Ausbau der »Festung« bringen mehr Zustimmung als die linke Forderung nach einem »guten Leben« oder gar einer Gesellschaft, die befreit von Profitlogik und Konkurrenz ist. Zugleich zeigt der Erfolg des SPÖ-Bürgermeisters von Traiskirchen, Andreas Babler, dass eine linke Kraft, die authentisch und konsequent für ein entsprechendes Programm eintritt, von den Menschen begrüßt wird.

Die SPÖ insgesamt stellt freilich keine solche Kraft dar. Trautl Brandstaller beschreibt den Zustand einer Partei, die recht ratlos wirkt mit ihren altbackenen Parolen, die weder glaubwürdig erscheinen noch auf größere Resonanz stoßen in einer entsolidarisierten Gesellschaft, die durch und durch auf eine neoliberale Agenda getrimmt ist. An diesem Zustand indes haben die Sozialdemokraten selbst, trotz mahnender Zurufe, in den letzten Jahrzehnten eifrig mitgewirkt. Der einst von ihr maßgeblich mitverhandelte »Klassenkompromiss« ist längst erodiert. In diesem Kompromiss spiegelten sich Errungenschaften der Linken und der Arbeiterbewegung wider. Freilich hat sich die Gesellschaft seither tiefgreifend verändert, es müssten heutzutage weit mehr Interessen berücksichtigt und ausgeglichen werden als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ganz abgesehen davon, dass die drängenden Fragen der Klimakrise überzeugend in ein emanzipatorisches Programm zu integrieren wären.

Für die Diskussion darüber, was links ist, ist es dennoch nicht unerheblich zu fragen: Was gilt es zu bewahren und zu verteidigen – und was muss an veränderte Verhältnisse angepasst werden? Zurück, so viel steht immerhin fest, ist keine Option.

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