Selbstbestimmung und Weltgestaltung

von Lisa Hoppel

407 wörter
~2 minuten
Selbstbestimmung und Weltgestaltung
Adom Getachew
Die Welt nach den Imperien
Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung
Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann, Suhrkamp, 2022, 448 Seiten
EUR 35,00 (AT), EUR 34,00 (DE), CHF 45,90 (CH)

Wie könnte eine demokratische, egalitäre und antiimperiale Zukunft aussehen? Und welche Versuche wurden in der Vergangenheit unternommen, diese zu erreichen? Diese Fragen stellt sich Adom Getachew in ihrem Buch Die Welt nach den Imperien, das in der deutschen Übersetzung besser »Weltgestaltung nach den Imperien« geheißen hätte. Denn um Gestaltungsmacht (oder -ohnmacht) geht es, wenn Getachew die Strategien von Antikolonialisten aus Afrika und der Karibik zur Errichtung einer postimperialen Weltordnung nachzeichnet.

Dass antikolonialer Nationalismus mit Bemühungen zur Transformation der Weltordnung verknüpft wurde, ist zwar nicht neu, aber Getachew arbeitet dies auf ausgeklügelte Weise mit frischem Blick heraus. Der innovative Beitrag dieser umfassenden Studie liegt in der Verortung von »Selbstbestimmung« an der Schnittstelle zwischen Nationenbildung und Weltgestaltung. Damit gelingt es Getachew, die vielschichtigen Debatten zur politischen und wirtschaftlichen Neuausrichtung im Zeitalter der Dekolonisierung einzufangen und die Widersprüche antikolonialer Projekte in eine lange Geschichte der Imperien einzuschreiben.

Getachew liefert mit ihrem Fokus auf Selbstbestimmung ein bedeutendes Korrektiv zu anhaltenden eurozentrischen Narrativen. In einer gut abgestimmten Mischung aus empirischer Präzision und theoretischer Intervention navigiert sie die Leserin durch den langen Kampf um das Bedeutungsfeld von Selbstbestimmung. Diese Geschichte führt über eine bedingte Selbstbestimmung in der Zwischenkriegszeit, die weiße Vorherrschaft, Kontrolle und ökonomische Ausbeutung legitimierte und in der italienischen Invasion Äthiopiens gipfelte. Die Bemühungen einer antikolonialen Neuformulierung bis 1960 erklärten Selbstbestimmung sodann als juridische Grundlage für internationale Nichtbeherrschung, um demokratische und redistributive postkoloniale Staatlichkeit abzusichern. Föderationen in Afrika und der Karibik sollten der neokolonialen Abhängigkeit trotzen, warfen aber Fragen der regionalen Ungleichheit auf. Die in den 1970er-Jahren erstarkende Vision einer neuen Weltwirtschaftsordnung verwies auf die materiellen Implikationen der souveränen Gleichheit und forderte eine ökonomische Umverteilung, die vor allem an die Verantwortung der Industriestaaten appellierte – und damit an ihre Grenzen stieß.

Der Niedergang der Selbstbestimmung wird häufig mit der »Krise des postkolonialen Staates«, jedoch nur selten mit dem neoliberalen Kurswechsel, der Marginalisierung internationaler Institutionen und dem Vormarsch des US-Imperialismus in Verbindung gebracht. Beim Nachdenken darüber, warum Strategien der antikolonialen Weltgestaltung scheiterten, tappt Getachew allerdings nicht in die Falle des postkolonialen Pessimismus. Dezidiert weist sie jegliche Zwangsläufigkeit zurück und erinnert stattdessen, mit Verweis auf die zahlreichen (Re-)Formulierungen einer antiimperialen Zukunft, an das schöpferische, erneuernde Potenzial, das uns in jeder Situation des Zusammenbruchs erwartet. Das Buch regt somit nicht nur an, die heutige Weltordnung zu reflektieren, sondern gibt auch Mut, diese zu gestalten.

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