Wahlkampf in Kurdistan

von Kathrin Niedermoser

Fotos: Kathrin Niedermoser

Die Chancen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am kommenden Sonntag abgewählt wird, stehen gut.


700 wörter
~3 minuten

Letzten Umfragen zufolge liegt Erdoğans stärkster Kontrahent, der CHP-Vorsitzende und Kandidat eines Sechs-Parteien-Bündnisses Kemal Kılıçdaroğlu, bei über 49 Prozent, während dem amtierenden Präsidenten lediglich 43 Prozent prognostiziert werden. Zudem kam es drei Tage vor der Wahl zu einem kleinen Paukenschlag, als Muharrem İnce seine Kandidatur für das Präsidentschaftsamt zurückzog. Es ist davon auszugehen, dass die zwei Prozent, die dem ehemaligen CHP-Politiker in Umfragen vorausgesagt wurden, nun wohl größtenteils zu Kılıçdaroğlu wandern werden.

In Van, einer 350.000-Einwohner-Stadt im Osten der Türkei, merkt man auf den ersten Blick kaum etwas von den anstehenden Wahlen. Nur vereinzelt finden sich Wahlplakate an Bushaltestellen oder Gebäuden. Für Aufsehen sorgen jedoch die Wahlkampfbusse, die den ganzen Tag über durch die Straßen fahren und von denen Musik gespielt und Wahlkampfreden gehalten werden. Hin und wieder sieht man Menschen winken und zustimmend gestikulieren, meist dann, wenn der Bus der Yeşil Sol Parti (Grüne Linkspartei, YSP) vorbeifährt.

90 Prozent der Menschen in Van haben kurdische Wurzeln, und so wundert es nicht, dass die Yeşil Sol Parti, unter deren Dach die HDP (Halkların Demokratik Partisi)aufgrund eines laufenden Verbotsverfahrens antritt, hier viel Zuspruch in der Bevölkerung hat. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 erhielt der inzwischen inhaftierte HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş über 58 Prozent der Stimmen in der Region.

In der Wahlkampfzentrale der YSP in der Innenstadt herrscht reges Treiben. Jeden Morgen treffen sich hier Aktivistinnen und strömen in Teams, ausgestattet mit Infomaterial, in die Stadtteile und umliegenden Dörfer aus. Vor der Wahlzentrale halten die älteren Sympathisantinnen währenddessen die Stellung. Es gibt Tee, man diskutiert, immer wieder kommen Journalistinnen und internationale Delegationen vorbei. Aus ganz Europa sind Menschen angereist, um die Wahlen zu beobachten. Das gibt Hoffnung, denn hier haben nicht wenige das Gefühl, dass die europäischen Regierungen und insbesondere die EU auf die Kurden einfach vergessen haben und für sie die wirtschaftlichen Beziehungen mit der Türkei und der »Flüchtlingsdeal« schwerer wiegen als Menschenrechte und demokratische Grundwerte.

Spricht man mit den Menschen vor der Wahlkampfzentrale der YSP, wird schnell klar, dass es hier kaum jemanden gibt, der nicht direkt von der Repression Erdoğans gegen die kurdischen und progressiven Kräfte im Land betroffen ist. Eine alte Frau erzählt von ihren beiden Töchtern, die im Gefängnis sind, weil sie sich für die Rechte der kurdischen Bevölkerung eingesetzt haben, sie kommt jeden Tag zur Wahlkampfzentrale und hofft, dass Erdoğan abgewählt und ihre Töchter wieder nach Hause kommen. Ein junger Mann hat seinen Job als Universitätsdozent verloren, weil er auf Facebook ein Posting gelikt hat, in dem die Freilassung des HDP-Vorsitzenden Demirtaş gefordert wurde, sein Bruder lebt seit vier Jahren im Ausland, weil es einen Haftbefehl gegen ihn gibt.

Solcher Geschichten hört man viele. Will man angesichts dessen Empathie zum Ausdruck bringen, winken die Menschen jedoch ab und erklären, dass das alles vollkommen normal sei in der Türkei. In fast jeder einer Familie kennt man das: Verwandte, die im Gefängnis sitzen, angeklagt worden sind oder ins Ausland fliehen mussten.

Hinzu kommt, dass die kurdisch dominierten Regionen im Osten der Türkei von Erdoğan gezielt ökonomisch ausgehungert und unter Zwangsverwaltung gestellt worden sind, demokratisch gewählte Bürgermeister wurden abgesetzt und regionale Selbstverwaltungsstrukturen zerschlagen.  

Die alten Menschen hier seien Kummer gewohnt, sagt ein alter Mann, während er seine Gebetskette dreht, aber die Jungen sähen hier keine Zukunft mehr. Folglich zögen sie in die Städte im Westen der Türkei oder versuchten ihr Glück im Ausland.  

Die Hoffnung, dass all das nun ein Ende haben könnte, zumindest jedoch demokratische Grundrechte wieder zur Geltung kommen, ist groß. Aber viele Dinge sind im Ungewissen: Sollte keiner der Kandidaten für das Präsidentschaftsamt die absolute Mehrheit erreichen, kommt es in zwei Wochen zu einer Stichwahl. Auch der Ausgang der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen ist nicht unerheblich für die Zukunft der Menschen in der Türkei. Die Frage, die jedoch alle am meisten beschäftigt, ist, ob Erdoğan eine Abwahl akzeptieren und kampflos das Feld räumen wird.

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