»Nur eine andere Geschlechterstruktur kann die Gewalt beenden«

von Marcela Torres Heredia

Fotos: Christopher Glanzl

Die Anthropologin Rita Segato ist eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen des lateinamerikanischen Feminismus. Ein Gespräch über Femizide, die Straße als Ort des Protests und Männer als Opfer des Patriarchats.


2299 wörter
~10 minuten

Marcela Torres Heredia | Im deutschsprachigen Raum wird zunehmend über patriarchale Gewalt diskutiert. Vor dem Hintergrund einer hohen Zahl von Morden an Frauen, gerade in Österreich, fand dabei der Femizid-Begriff eine größere Verbreitung – der sich ja ursprünglich auf die Situation in Lateinamerika bezog. Gibt es aus deiner Sicht einen Unterschied zwischen Femiziden in Lateinamerika und Femiziden in Europa?

Rita Segato | Die erste Antwort ist: Femizide gibt es auch in Europa. Erst kürzlich war eine mir nahestehende Person, die in Frankreich lebt, in ihrem näheren Umfeld mit dieser äußersten Form von Gewalt konfrontiert. Der Begriff entstand bekanntlich vor dem Hintergrund einer Serie von Morden an Frauen in der nordmexikanischen Metropole Ciudad Juárez Anfang der Nullerjahre. Es gibt seither eine breite Diskussion, welche Formen der Gewalt darunter fallen, aber aus meiner Sicht lenkt der Begriff Femizid die Aufmerksamkeit auf das Kontinuum der Gewalt, das in bestimmten Fällen mit dem Tod endet. In Erweiterung dazu stelle ich seit einiger Zeit den Begriff des Feminogenozids (»femigenocidio«) zur Diskussion. Damit meine ich eine Form des nichtintimen Femizids, bei dem es – ich argumentiere da in Anlehnung an die Definitionen in der UN-Konvention zu Völkermord – zu einer derartigen Einschränkung der Lebensbedingungen kommt, dass die Möglichkeit der Reproduktion eines Lebens nicht mehr vorhanden ist. In dieser Perspektive analysiere ich zum Beispiel sexuelle Sklaverei, Menschenhandel, Zwangssexarbeit, wovon ja insbesondere Migrantinnen betroffen sind. Diese Gewaltverhältnisse müssen stets historisch betrachtet werden, da sie nicht immer die gleichen Erscheinungsformen haben. Im heutigen Europa zum Beispiel kann man aus den Berichten von Menschen, die diese Lebens- und Arbeitserfahrungen gemacht haben, erkennen, dass sie tatsächlich eine extreme Reduzierung ihrer Lebensbedingungen erfahren, eine Konzentration auf das Gerade-noch-Überleben. Dies sind Dimensionen von Gewalt, die in die Diskussion über Femizide in Europa einbezogen werden müssen.

MTH | Du würdest also sagen, dass deine Ideen, die das Ergebnis des Denkens im lateinamerikanischen Kontext sind, auch im deutschsprachigen Raum adaptiert werden können?

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