Uhren aus selbstbestimmter Hand

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 10, Oktober 1973


576 wörter
~3 minuten

Die Uhrenfabrik LIP im südostfranzösischen Besançon wurde im Jahr 1973 zum Schauplatz eines ikonenhaften Arbeitskampfs – LIP gilt als eines der wenigen Beispiele, in denen die (vorwiegend weibliche) Belegschaft im Zuge eines Konflikts um Umstrukturierungen und eine im Geheimen vorbereitete Schließung nicht nur den Betrieb besetzte, sondern im Sommer 1973 die Produktion unter eigener Verwaltung wiederaufnahm. Auch nachdem die Polizei die Betriebshallen geräumt hatte, wurde weiterproduziert (der guten Vorbereitung durch die Arbeiter, aber auch den technischen Eigenheiten der Uhrenproduktion sei Dank). In vielem war dieser Kampf erfolgreich, er konnte die lokale Bevölkerung auf seine Seite ziehen und die Solidarität anderer Arbeiterinnen im ganzen Land mobilisieren. Während der französische Premier Pierre Messmer im Oktober 1973 deklarierte »Bei LIP ist’s aus!« und die Gewerkschaften in ihrer Unterstützung nicht immer eindeutig waren, ging der Konflikt bis ins Frühjahr 1974 weiter. Im Jahr 1976 wiederholte sich der Kampf auf höherer Stufe, dieses Mal endete die Besetzung in der Bildung selbstverwalteter Produktionskooperativen, die sich bis Mitte der 1980er-Jahre halten konnten. Franz Marek kommentierte den Konflikt im Wiener Tagebuch in seiner Kolumne »Chronik der Linken«, die einen für die Zeit ungewöhnlich gut informierten Schwerpunkt auf die jeweilige Situation in Frankreich und Italien legte.

Franz Marek

LIP-LIP-Hurrah

Mit diesem Ruf übernahmen im Juli die Arbeiter der Uhrenfabrik LIP in Besançon die Leitung und Verwaltung des Betriebes und den Verkauf der von ihnen erzeugten Uhren. Mit diesem Ruf begrüßten Ende August die Bauern von Lazarec, die seit Jahr und Tag sich erfolgreich dagegen wehren, daß ihre Weiden in einen Militärplatz verwandelt werden, die Delegierten der Uhrenfabrik – 50.000 Arbeiter und Bauern waren zu dieser Verbrüderungsfeier auf dem Plateau zusammengekommen, obwohl keine einzige Partei oder Organisation die Mobilisierung zu dieser Veranstaltung übernommen hatte. »LIP-LIP-Hurrah« rufen die von beiden Gewerkschaftszentralen CGT (unter kommunistischer Führung) und CFTD (aus der ehemaligen christlichen Gewerkschaft hervorgegangen) zur Solidarität aufgerufenen Arbeiter, die Bergarbeiter von Lothringen ebenso wie die Eisenbahner von Toulouse, die Angehörigen der traditionellen Arbeiterorganisationen ebenso wie die Aktivisten der außerparlamentarischen linksradikalen Gruppen, die einander auf dem Solidaritätstag vom 7. September trafen. 

Was gab und gibt dem Kampf der Arbeiter dieses Mittelbetriebs, der 1.300 Arbeiter, vorwiegend Frauen, beschäftigt, in der Stadt Besançon, deren verschlafenen Provinzialismus Balzac so anschaulich geschildert hat, diese große nationale – und internationale – Bedeutung? Wir finden sie am besten und knappsten zusammengefaßt in der Zeitschrift der französischen Unternehmer, Telegramme économique, die am 25. Juli wortwörtlich schrieb: »Das ernsteste Ereignis der letzten Jahre wird vielleicht die Affäre LIP sein, auch aufgrund der Lösung, die sie finden wird. Die französische Gesellschaft, so wie sie die Behörden und die herrschenden Klassen werten, ist selten mehr in ihren Prinzipien in Frage gestellt worden als durch diese Affäre LIP.« In der Tat, es handelt sich um nichts weniger als um die Negierung der Funktion des Unternehmers, um die Demonstration des Anachronismus des Privateigentums an Produktionsmitteln, um die Kontestation der staatlichen Autorität und der geltenden Legalität – und dies unter der Zustimmung nicht nur der Mehrheit der Bevölkerung von Besançon, sondern auch der französischen öffentlichen Meinung. 

[...]

Kommissionen übernahmen die Leitung der einzelnen Abteilungen, der Vollversammlung verantwortlich und jederzeit abberufbar. Gleichzeitig begann eine intensive Aufklärung in der Stadt. Die Zeitung des Aktionskomitees, LIP unité, erschien und erscheint in einer Auflage von 30.000 Exemplaren. Hauptlosung: wir produzieren selbst, wir verkaufen selbst, wir zahlen uns selbst den Lohn aus.
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