Nur zwei Tage nach ihrem Erscheinen war die Titelgeschichte unserer letzten Ausgabe auch schon überholt. Die monatelangen Proteste gegen den Justizcoup in Israel, über die Hanno Hauenstein berichtet hatte, auch sie sind nach dem verheerenden Überfall der Hamas auf israelische Dörfer an der Grenze zum Gazastreifen am 7. Oktober schlagartig zu einem Ende gekommen. Die Hoffnung, die Problematisierung der Besatzungsfrage innerhalb der Bewegung könnte zu einem Paradigmenwechsel in der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern insgesamt führen, ist heute eine Geschichte darüber, was hätte sein können.

Über 1.400 Menschen, überwiegend Zivilistinnen und Zivilisten, fielen dem Terror der Hamas zum Opfer, über 200 Israelis wurden in den Gazastreifen verschleppt. Beispiellos ist auch die militärische Reaktion Israels. Schon jetzt haben die Bombardements der israelischen Streitkräfte mehr zivile Opfer gefordert als alle bisherigen Gazakriege zusammen. Insgesamt wächst die Angst vor einem »Genozid nach Lehrbuch«, wie es Raz Segal in Jewish Currents formulierte. Ob sich der befürchtete Flächenbrand in der Region noch verhindern lässt, ist zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, keineswegs gewiss. Dazu kommt eine Welle an Hassverbrechen rund um den Globus: vom versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin bis zum Mord an einem sechsjährigen als Muslim gelesenen Jungen durch einen antimuslimischen Rassisten in Chicago.

Das Leid beider Seiten ohne Hierarchisierung anzuerkennen und Analysen anzustellen, die nicht von dumpfen Ressentiments getrieben sind, daran scheiterte der politische und mediale Mainstream in den letzten Wochen fraglos. Traurige Höhepunkte (in der näheren Umgebung): die Entscheidung der Messeleitung, die palästinensische Autorin Adania Shibli nicht auf der Frankfurter Buchmesse auszuzeichnen; die Entscheidung der deutschen Sozialdemokratin Saskia Esken, ein Treffen mit Bernie Sanders, einem Enkel jüdischer Holocaust-Überlebender, aufgrund seiner israelkritischen Positionen abzusagen; die Entscheidung der Berliner Polizei, propalästinensische Meinungsäußerungen unterschiedslos zu verbieten; schließlich die Entscheidung der Parteichefs aller anderen Fraktionen im österreichischen Nationalrat, gemeinsam mit FPÖ-Chef Herbert Kickl eine Erklärung in »Solidarität« mit dem Staat Israel zu verabschieden. Mit jenem Herbert Kickl, der einst Jörg Haider die Zeile »Ich weiß gar nicht, wie einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann« soufflierte und der jüngst die Identitäre Bewegung innerhalb der FPÖ pardonierte. Eine groteskere Querfront hat dieses Land noch nicht gesehen.

Dass die Verwirrungen, die zu solchen Entscheidungen führen, indes keineswegs neu, nur eben gut gehegt sind, das lässt sich schon bei Leopold Spira in unserem diesmaligen Tagebuch im TAGEBUCH nachlesen.

Unbestritten ist aber auch, dass Teile der Linken zuletzt starke Zweifel an ihrer Urteilsfähigkeit haben aufkommen lassen. Über »die unzureichende Reaktion einiger amerikanischer und europäischer Progressiver auf die Angriffe der Hamas auf israelische Zivilisten« haben sich Mitte Oktober mehrere Dutzend jüdisch-israelische Intellektuelle angeführt von Adam Raz und Eva Illouz in einer gemeinsamen Erklärung völlig zu Recht besorgt gezeigt. »Manche«, heißt es darin, »haben sich geweigert, die Gewalt zu verurteilen, mit der Begründung, Außenstehende hätten kein Recht, über die Handlungen der Unterdrückten zu richten. Andere haben das Leid und das Trauma heruntergespielt (…). Wir betonen: Es besteht kein Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterdrückung und Besatzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten.« Ganz ähnlich hatte sich zuvor schon Joshua Leifert im Dissent Magazine geäußert: »Die Menschlichkeit aller zu wahren – das ist das Gebot der Stunde«, schrieb Leifert da. Und: »Rufe nach Vergeltung zurückzuweisen, sich gegen die Entmenschlichung der Palästinenser und die sich anbahnende Katastrophe in Gaza zu stellen und – ja, im gleichen Atemzug – den Schrecken des Hamas-Angriffs und die kategorische Unvertretbarkeit der Tötung von Zivilisten anzuerkennen. Wenn israelische Linke, die immer noch ihre Toten begraben, dies schaffen können, gibt es für selbsternannte Linke in New York oder London keine Entschuldigung, es nicht auch zu tun.«

Dieser Satz gilt auch für hiesige Zusammenhänge uneingeschränkt: Wer das darin formulierte Mindestmaß an Differenzierungsfähigkeit und Empathie nicht aufzubringen imstande ist, wer die Menschlichkeit aller als Richtschnur politischen Handelns aufgegeben hat, stellt sich selbst außerhalb dessen, was linke Politik ist.

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