Eindimensionale Solidarität

von Hanno Hauenstein

Illustration: Dani Maiz

Deutschlands Staatsräson, der Krieg in Gaza und Vorwürfe der Zensur: Internationale Kulturschaffende reagieren auf zunehmenden Gesinnungsdruck mit einer Debatte über einen Boykott Deutschlands.


2690 wörter
~11 minuten

Es sind dutzende Fälle von Absagen von Veranstaltungen zum Thema Israel und Palästina, die in Deutschland dieser Tage ernsthafte Fragen aufwerfen: zum Stand der freien Meinungsäußerung, zur Freiheit der Kunst und zu vorauseilender Selbstzensur in der Kulturszene selbst. Unbestritten sind die Räume für kritischen Austausch in Deutschland und Österreich in den letzten Monaten enger, die Einschränkungen der Kunstfreiheit spürbarer geworden. Was sich abzeichnet, ist eine wachsende Unvereinbarkeit von internationalen Perspektiven auf Geopolitik und Kultur auf der einen und der deutschen Staatsräson bzw. vergleichbaren Haltungen in Österreich gegenüber Israel auf der anderen Seite.

In der Tat ist Sensibilität gegenüber wachsendem Antisemitismus infolge des 7. Oktober absolut angebracht. Doch der Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und einer staatlich verordneten Deutungshoheit über Antisemitismus hat inzwischen weite Gräben aufgerissen: hier das ernstgemeinte Bekenntnis zu Pluralismus, dort eine Außenpolitik fest an der Seite Israels, egal wie weit rechts dessen Regierung auch stehen mag. Das führte in den letzten Wochen zu Kontroversen internationalen Ausmaßes. Sorgen über die Vereinbarkeit von kritischem Diskurs und internationalen Perspektiven wachsen in der deutschen Kulturszene seither genauso wie innerhalb der großen Institutionen.

Die Absage einer Zeremonie im Rahmen der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen und der zeitgleich angekündigte Rückzug der Heinrich-Böll-Stiftung infolge eines kurz zuvor veröffentlichten, kontrovers diskutierten Essays Gessens im New Yorker stellten dabei einen vorläufigen Höhepunkt dar (siehe dazu auch das Gespräch mit Jelena Subotić). Gessen ist ein:e jüdische:r Autor:in, der Großvater war während des Holocaust selbst im Ghetto von Białystok an einem Aufstand beteiligt – dass so eine Persönlichkeit wegen eines provokanten Vergleichs von Gaza mit einem jüdischen Ghetto just in Deutschland paternalistische Lektionen über Antisemitismus über sich ergehen lassen musste und die oben erwähnte Veranstaltung abgesagt wurde, hatte die internationale Presselandschaft in ungläubiges Erstaunen versetzt.

Doch Gessen ist kein Einzelfall. In den letzten drei Monaten wurden zahlreiche Ausstellungen, Konferenzen, Konzerte etc. gestrichen. Eine Preisverleihung für die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse wurde bereits Mitte Oktober abgesagt. Am 13. November folgte die Absage der Ausstellung We Is Future im Museum Folkwang in Essen. Die Begründung lautete, dass Anaïs Duplan aus Haiti, für die Kuratierung der Ausstellung verantwortlich, den israelischen Vergeltungsschlag in Gaza auf Instagram als Genozid bezeichnet hatte. Eine Woche später wurde die Biennale für aktuelle Fotografie, die 2024 in drei deutschen Städten hätte stattfinden sollen, abgesagt. Organisator:innen hatten entdeckt, dass ein Kurator ein Interview in den sozialen Medien verbreitet hatte, in dem eine Parallele zwischen Israels Vorgehen in Gaza und dem Holocaust gezogen wurde.

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