Hyper, hyper!

von Benjamin Opratko

484 wörter
~2 minuten
Hyper, hyper!
Anton Jäger
Hyperpolitik
Extreme Politisierung ohne politische Folgen
Suhrkamp, 2023, 160 Seiten
EUR 16,50 (AT), EUR 16,00 (DE), CHF 23,50 (CH)

Ab und zu tauchen im politischen Handgemenge Begriffe auf, die auf Anhieb ins Schwarze zu treffen scheinen. »Hyperpolitik« ist so einer. Der junge belgische Ideenhistoriker Anton Jäger brachte ihn letztes Jahr in mehreren Essays für linke englischsprachige Magazine ein und meinte damit die sonderbare Form, die Politik im Alltag vieler Menschen heute annimmt: überaus präsent im Privaten, höchst kontrovers und moralisch aufgeladen, aber zugleich identitär, individualisiert und meist folgenlos. Wir streiten auf Familienfeiern und im Internet über Gendersprache, Klimakleber oder Grenzpolitik, aber nicht um etwas zu ändern, sondern um auf der richtigen Seite zu stehen.

Nun hat Jäger sein Argument zu einem kleinen Buch ausgearbeitet. Im Kern läuft es auf eine Periodisierung politischer Formen im globalen Nord-Westen hinaus, eingeteilt entlang zweier Achsen: Politisierung und Institutionalisierung. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war von Massenpolitik geprägt: Eine hohe Politisierung der Bevölkerung, links wie rechts und in allen Klassen, war verbunden mit einem hohen Maß an Institutionalisierung. Über die Mitgliedschaft in Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen, Kirchen und anderen Massenorganisationen fand Politik Eingang in die Gesellschaft. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1970er-Jahren trat an die Stelle der Massenpolitik die Postpolitik: Niedrige Politisierung (nunmehr regelte der Markt) ging einher mit geringerer Institutionalisierung – die Massenorganisationen verloren massiv an Mitgliedern, deren Rolle in der Politikgestaltung wiederum kleine, professionelle Agenturen, Thinktanks und NGOs einnahmen.

Ab den 2010ern jedoch begann das Pendel wieder in die andere Richtung auszuschlagen: Die globale Wirtschaftskrise, die Revolutionen in Nordafrika, Massenproteste gegen die Austeritätspolitik in Europa, die Klimabewegung, neue feministische und antirassistische Kämpfe ließen die Politisierung des Alltags wieder zunehmen. Damit ging jedoch keine neue Phase der Institutionalisierung einher, die Engagierten haben keine angemessene Form für ihre Aktivitäten ausgebildet und finden sich in der »hyperpolitischen Zwickmühle« wieder.

Diese aufgeregte Präsenz der Politik könne sich anfühlen, als würde man »von einer Art permanenter Dreyfus-Affäre überrollt«, so Jäger. Dass in seiner Argumentation nicht jedes Detail ins große Bild passt, ist zweitrangig, Vereinfachungen sind im großen historischen Panorama nicht zu vermeiden. Wichtiger ist: Ist der Begriff nicht nur analytisch nützlich, sondern auch handlungsanleitend für politische Praxis? Soll es zurückgehen in die Ära der Massenpolitik? Ist das unter den veränderten ökonomischen, politischen, kulturellen Bedingungen überhaupt möglich und erstrebenswert? Jäger ist sich der Schwierigkeit bewusst, schreibt am Ende des Buches: »In diese Situation gebracht haben uns auch langfristige gesellschaftliche Trends, die man nicht einfach voluntaristisch stoppen und umkehren kann, nur weil ein junger belgischer Ideenhistoriker dazu auffordert, im Ortsverein einer Partei mitzuarbeiten oder einer Gewerkschaft beizutreten.« Hyperpolitik schärft den Blick und stellt die richtige Frage: Wie kann kollektive Handlungsfähigkeit hergestellt werden angesichts existenzieller Krisen? Ob der Begriff auch noch helfen kann, die Dinge in die richtige Richtung zu bewegen, wird davon abhängen, wer ihn nun weiterträgt.

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