Krieg und
Revolution

von David Mayer

Editorial TAGEBUCH 12/1|2023/2024

Es gehört zu den Paradoxien des Krieges, dass er stets hyperkonkret und hyperabstrakt zugleich ist. Seine konkrete, erfahrbare Seite – Leid, Schrecken, Zerstörung – ist selbst für Beobachterinnen kaum aushaltbar und entzieht sich oft der Sprache. Was in den Medien, je nach Parteilichkeit und »Nähe«, entweder zu nüchterner Indifferenz oder Überbietungswettbewerben der Grausamkeitsbeschreibung führt. Die politische Antwort auf diese unmittelbare Seite des Krieges ist meist wenig spektakulär. Sie lautet im Falle des auf die Massaker der Hamas vom 7. Oktober folgenden Gaza-Krieges der israelischen Armee auch weiterhin: sofortiger Waffenstillstand und Freilassung aller israelischen Geiseln. So fordert es auch der Grazer Stadtrat und KPÖ-Politiker Robert Krotzer in seinem Gastkommentar.

Die andere, abstrakte Seite des Krieges ist seit Jahrtausenden ein Thema der (überwiegend männlich) überlieferten Denkgeschichte. Krieg entwurzelt, wälzt um und verschiebt Konstellationen, die zuvor fest erschienen. So wurde in den Debatten der letzten Wochen, so sie überhaupt noch einen analytischen und kritischen Gehalt hatten, wiederholt die Ansicht geäußert, dass nach dem 7. Oktober die drei Jahrzehnte lang als realistischer und wahrscheinlicher geltende Zweistaatenlösung nun endgültig in Trümmern liege. Sollte es sie überhaupt noch geben, dann nur in einer Asymmetrie, die zulasten der Palästinenser und Palästinenserinnen jeder kategorialen Gleichheit in der Vorstellung von Staatlichkeit spotten würde.

Durch diese Entwicklung erscheint die eigentlich als utopisch verfemte Einstaatenlösung plötzlich wieder denkbar. Und sei es auch nur, weil sie durch das tiefe Scheitern der Zweistaatenidee und mangels Alternativen, wie man auf Englisch sagt, »default« wurde. Freilich, wahrscheinlicher ist sie dadurch nicht – unter den momentanen Umständen würde jeder Versuch eines gemeinsamen Staates zu mehreren Bürgerkriegsdynamiken führen (innerisra­elisch, innerpalästinensisch und zwischen ethno-revanchistischen Fraktionen in den beiden Gruppen). Als minoritäre Position könnte die Einstaatenlösung aber vom geächteten zum zumindest nicht mehr belächelbaren Rand aufsteigen. Sie ist in sich variantenreich. Manche, wie der Philosoph Omri Boehm, stützen diese Idee auf einen auf Immanuel Kant zurückgreifenden Universalismus liberaler Prägung. Linke Proponenten, wie der Historiker Ilan Pappe oder der 2003 verstorbene Literaturwissenschafter Edward Said, haben stets die Notwendigkeit betont, dass ein gemeinsames staatliches Gebilde – ganz egal, ob es unitär oder föderal-kantonal ausgerichtet wäre – nur mit einer konsequenten Politik der sozialen (und ökologischen) Gleichheit gelingen könnte. Dass also eine Lösung jener Fragen, die bis heute jeder Krieg in Nahost erneut aufgeworfen hat, ohne eine transformatorisches Programm nicht zu haben sein wird.

In älteren linken Debatten hätte man dies als den Zusammenhang von »Krieg« und »Revolution« diskutiert. Kaum ein Denker hat diesen so eingehend durchdacht wie Lenin. Krieg steigerte für Lenin die Widersprüche der herrschenden Gesellschaft derart zu einem unmittelbaren Schrecken, dass sich dadurch ein historischer Möglichkeitsraum für gesellschaftliche Transformation öffnen konnte. Seinen 100. Todestag im Jänner 2024 nimmt Alfred J. Noll zum Anlass, diesen seit 1989 als »asiatischen Täter« unter Quarantäne gestellten Theoretiker, Aktivisten und Politiker aufs Neue zu bedenken.

Diese Ausgabe des TAGEBUCH leitet auch ins nächste Jahr und damit zu zwei Neuerungen über. Erstens verabschieden wir uns – so wie wir es seit unserer Gründung bei jedem Jahreswechsel und stets schweren Herzens gemacht haben – von unserer Jahrgangsillustratorin: diesmal von Ūla Šveikauskaitė, deren ausdrucksstarke Sujets uns in Erinnerung bleiben werden. Zugleich freuen wir uns auf die Zusammenarbeit mit dem in Berlin lebenden Illustrator Dani Maiz, der mit diesem Heft seinen eindrucksvollen Einstand gibt. Zweitens dürfen wir eine neue Kolumne ankündigen: Die Literaturwissenschafterin Iuditha Balint, Direktorin des in Dortmund angesiedelten Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, wird von nun an in jeder Ausgabe das Verhältnis von Literatur und Arbeit bzw. Arbeitswelt kommentieren. Auch wenn Arbeit ob ihrer schieren gesellschaftlichen Bedeutung per se literarisch wäre, wird sie im Literaturbetrieb noch immer zu wenig beachtet (obwohl der Begriff »Literaturbetrieb« semantisch eine Nähe zu »Arbeit« andeuten würde). Der Titel von Iuditha Balints Kolumne könnte angesichts der allgemeinen Umstände passender nicht sein: Kritik & Zärtlichkeit. Er würde sich – wäre der nicht schon vergeben – auch als Untertitel für unsere Zeitschrift eignen.

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