Toni Negri (li.) mit Michael Hardt. (Foto: C. Werner / A. Weltz)

Theoretiker am Nerv der Zeit

von Jens Kastner

Er verknüpfte Marxismus und Poststrukturalismus und prägte mehrere Generationen politisch engagierter Menschen: Im Dezember 2023 verstarb der Philosoph und Aktivist Antonio Negri im 91. Lebensjahr.


1587 wörter
~7 minuten

In einem Brief an seinen Freund und Genossen, den Philosophen Gerald Raunig, schrieb Antonio Negri 2020: Der General Intellect verbinde im Wissen »Vernunft und Affekt, Gemeinschaft und Singularität miteinander«. Er stelle ein Modell dar, in dem »sich in Liebe und Demokratie (wie es die Grundrisse wollten) ›das soziale Individuum‹ subjektiviert«. Mit Antonio Negri ist am 16. Dezember 2023 ein Autor, Theoretiker und Aktivist gestorben, der über Jahrzehnte dem unverwüstlichen Optimismus treu geblieben war, dass freie und gleiche Subjektivierungen möglich sind.

Bei einem der ersten Texte, die ich von Antonio Negri las, war ich mir nicht sicher, ob es sich um Satire handeln sollte. Es war ein Aufsatz in der Zeitschrift Die Beute, die in den 1990ern der Poplinken zugerechnet wurde, und es ging um die Arbeitskämpfe in Frankreich 1995. Vom »Bruch mit der Konterrevolution des 20. Jahrhunderts« war da die Rede. Der Streik sei kein reiner Arbeitskampf mehr, sondern habe sich in das Leben der Menschen verlängert und sei »in den Alltag eingedrungen«. Der euphorische Ton, den der Autor angesichts des Streiks in Frankreich anschlug, war mir bis dahin völlig fremd. Geschult an der These von der Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus, die in der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse vertreten wurde, schien mir das grundlegende Vertrauen in die konstituierende Macht der Arbeiter:innen fast wie eine Persiflage. Aber er meinte es ernst. »Arbeitskraft ist Armut, die als Bedürfnis und Wunsch die Kraft zu produzieren hat«, schrieb Negri in besagtem Brief.

Als Marxist hatte Negri schon in den 1960er-Jahren Begriff und Verständnis von Arbeit neu zu konzipieren versucht. Damals kam es zu verschärften Arbeitskämpfen in der norditalienischen Autoindustrie, in denen die Arbeiter:innen weit über die Forderungen nach höheren Löhnen und Arbeitszeitverkürzung hinausgingen. Negri sah darin einen Kampf gegen die Arbeit am Werk, der zu so etwas wie der Leitlinie seines theoretischen Schaffens wurde. Als Mitglied der Gruppe Potere Operaia (Arbeitermacht) gehörte er schon damals zu den einflussreichsten Theoretiker:innen der außerparlamentarischen Linken in Italien. Gemeinsam mit anderen verteilte er morgens zwischen sechs und acht Uhr Flugblätter vor den Fabriktoren, dann fuhr er mit dem Auto zur Uni. Ab 1973 war Negri Teil der Gruppe Autonomia Operaio (Arbeiterautonomie). Das Konzept der Arbeiterautonomie zielte auf Unabhängigkeit von den traditionellen Arbeiterparteien, proklamierte aber auch eine Eigenständigkeit der Kämpfe: Sie wurden nicht als Reaktion auf die Maßgaben des Kapitals interpretiert, sondern als eigentliche Triebkraft der Geschichte. Für Negri war die Fabrik aber nicht die einzige und nicht mehr die entscheidende Produktionsstätte. Das Kapital schöpft den Mehrwert von überall ab, Negri entwarf das Konzept des »gesellschaftlichen Arbeiters«, der im gesamten Sozialraum tätig ist. Die Operaist:innen forderten dementsprechend eine Veränderung des gesamten Lebens, das ging auch von den feministischen Kämpfen um die Politisierung der Reproduktionsarbeit aus.

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