Corona-Leugner vs. Regierungstreue, Putin-Versteher vs. Ukraine-Freunde, Hamas-Verteidiger vs. Israel-Fans – die vielbeschworene Polarisierung der Gesellschaft erreichte in Pandemiezeiten ihren vorläufigen Höhepunkt, setzte sich mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fort und lässt sich derzeit auch beim israelisch-palästinensischen Konflikt beobachten. Es sind Themen, die man lieber nicht anspricht, wenn man das Gegenüber nicht gut kennt, oder umgekehrt, wenn man es sehr gut kennt und ahnt, dass das Gespräch eskalieren könnte – ganz zu schweigen von Diskussionen in digitalen Räumen und sozialen Medien.

Eine Strategie, die gesellschaftliche Spaltung zu kitten, zeigte sich während der Covid-Pandemie: Expertinnen sollten der Bevölkerung das »richtige« Wissen vermitteln und zudem die Entscheidungen von Politikern legitimieren – erinnert sei an die zahllosen Pressekonferenzen von Politikern mit Epidemiologen und Virologinnen. Dem Ende der Pandemie folgten staatliche Kampagnen und Initiativen zur Bekämpfung der in Österreich vorgeblich besonders stark verbreiteten Wissenschaftsskepsis. Wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt, gerade in Krisenzeiten, zweifelsohne eine zentrale Bedeutung zu. Mit dem Begriff der »Epistemisierung des Politischen« weist der Soziologe Alexander Bogner jedoch auf die Gefahr hin, dass politische Probleme zunehmend als Wissensprobleme erscheinen. Dies hat zur Folge, dass der politische Charakter von Verwerfungen und Konflikten, wie sie aktuell zuhauf zu beobachten sind, zunehmend in den Hintergrund tritt.

Eine weitere Entwicklung, die dem Phänomen der »Epistemisierung des Politischen« auf den ersten Blick diametral gegenübersteht, diesem jedoch gar nicht so unähnlich ist, findet sich im Erstarken einer Empörungskultur. Denn beide Trends können letztendlich zu einer Ausblendung des Politischen und einer diskursiven Verengung beitragen. In der Empörungsgesellschaft wird ermahnt und ein »Statement« eingefordert, weil »problematische« Formulierungen und Positionen (auf-)gefallen sind. Dabei geht es selten um eine kritische Beleuchtung von Begriffen oder gar eine argumentative Auseinandersetzung, viel eher geht es um die Abgrenzung vom anderen und die Demonstration der eigenen moralischen Reinheit. Für Zwischentöne, Zweifel oder Zögern bleibt hingegen wenig Raum. Gegenwärtige Entwicklungen in einen historischen Kontext zu setzen ist manchen bereits Anmaßung genug.

Ein Merkmal von Krieg ist die Ausblendung von menschlichem Leid und der Situation der Zivilbevölkerung. Im deutschsprachigen Raum trägt diese Debatte absurde Früchte: Hier wird schon einer bloßen Thematisierung der Lage der palästinensischen Zivilisten eine Agenda in Form einer Verharmlosung der abscheulichen Hamas-Massaker auf Israel unterstellt. Eine diskursive Verengung, die von Selbstzensur bis hin zu Veranstaltungsabsagen reicht, konstatiert Hanno Hauenstein vor allem im kulturpolitischen und wissenschaftlichen Bereich. In unserer Titelgeschichte analysiert er den Stand der Meinungsfreiheit und Reaktionen auf ebenjenen, die unter anderem eine Kampagne für einen kulturellen Boykott Deutschlands umfassen.

Einen weiteren Beleg für die Verengung der Debattenräume liefert Jelena Subotić im Interview. Sie beschreibt, wie Holocaust-Vergleiche dazu dienen, die eigene politische Agenda zu immunisieren und den politischen Gegner zu delegitimieren. Und sie resümiert: »Leider befinden wir uns derzeit in diesem Teufelskreis, in dem die Vergangenheit dazu verwendet wird, weitere Gewalt in der Gegenwart zu rechtfertigen.« Das Jahr ist noch jung. Noch darf man hoffen, dass der Diskurs über diese Gewalt in Zukunft nicht weiter verengt wird.

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