»Wie ist das jetzt mit der österreichischen Schule?« Die Frage des Buchhändlers meines Viertels Villa Crespo in Buenos Aires überrascht mich zunächst. Dann wird mir klar, dass er die sogenannte Österreichische Schule der Nationalökonomie meint, gegründet gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Carl Menger und weltweit bekannt geworden durch Exponenten wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek (siehe dazu auch den Beitrag von Karin Fischer). »Außerhalb der Universitäten kennt sie kaum jemand«. Meine Antwort wiederum überrascht den Buchhändler, denn spätestens seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Javier Milei vergangenen Dezember ist die Österreichische Schule in Argentinien in aller Munde. Mehr als nur einmal werde ich aufgrund meiner Herkunft nach ihr gefragt.
Javier Milei versteht sich als ihr Anhänger, wobei in seiner Version von komplexen akademischen Debatten nur ein radikaler ökonomischer Liberalismus und Antietatismus übrigbleiben. Für knapp die Hälfte der Argentinier – jene, die diese Regierung nicht gewählt hat – ist sie nichts anderes als ein weiterer Aufguss neoliberaler Ideologie, mit der das Land schon während der letzten Militärdiktatur, danach in den 1990er-Jahren unter der Regierung von Carlos Menem und schließlich in der Amtszeit von Mauricio Macri zwischen 2015 und 2019 Erfahrungen machte – durchwegs mit desaströsen Folgen. Der harte Kern der Milei-Anhänger sieht in ihr dagegen den einzigen Ausweg aus der chronischen Krise des Landes, der paradoxerweise nur durch ihre Vertiefung begangen werden könne. Andere wie der Buchhändler wundern sich darüber, wie es eine akademische Lehre aus einem Land wie Österreich in die politischen Alltagsdebatten in Argentinien schaffen konnte.
Javier Milei, der an einer Privatuniversität ausgebildete Ökonom, ist auch ein Produkt der Mediengesellschaft. Er erlangte als wirtschaftlicher Kommentator und später durch eigene Radio- und Fernsehprogramme Bekanntheit. Sein stets aggressiver Diskussionsstil gepaart mit hyperradikalen Positionen zur notwendigen Freiheit des Kapitals verschaffte ihm einen bedeutenden Anhängerkreis. Er gab sich dafür die Selbstbezeichnung »Anarchokapitalist«. Der liberale französische Ökonom und Publizist Guy Sorman, der Javier Milei im Zuge einer Gastprofessur in Buenos Aires als Studenten kennenlernte, urteilt dagegen: »In erster Linie ist er verrückt, erst in zweiter Linie ist er ein Liberaler.«
In einem von Corona-Pandemie, klimabedingten Missernten und enormen Staatsschulden gebeutelten Land verkündete Javier Milei 2020 seinen Einstieg in die Politik. Ein Jahr später erlangte seine Wahlgruppierung La Libertad Avanza (Dt.: Die Freiheit schreitet voran, LLA) 5,5 Prozent der Stimmen und zog mit vier Sitzen in das Abgeordnetenhaus des Nationalkongresses ein. Anfang 2022 gab er seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt. Im Wahlkampf versprach er unter anderem, die Zentralbank aufzulösen, den Peso durch den US-Dollar zu ersetzen, Steuern zu senken und die Staatsausgaben zu minimieren. Früher noch vorgebrachte, abstruse Forderungen wie die Legalisierung des Handels mit menschlichen Organen und Kleinkindern – bei gleichzeitiger Kriminalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung – fanden sich im Wahlprogramm nicht mehr. In der ersten Wahlrunde im Oktober 2023 lag er mit rund 30 Prozent der Stimmen noch hinter dem peronistischen Kandidaten Sergio Massa, ließ aber Patricia Bullrich, die höher eingeschätzte Kandidatin des Lagers rund um den früheren neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri, hinter sich. Dies ebnete Milei den Weg in die Stichwahl, in der er einen Monat später schließlich mit knapp über 55 Prozent der Stimmen die Oberhand behielt.
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