Milei bei seiner Amtseinführung auf dem Balkon der Casa Rosada. (F.: Lasalvia/AFP/Picturedesk)

Der Überzeugungstäter

von Tobias Boos

Javier Milei steht für einen wahnhaften Wirtschaftsliberalismus, der nicht nur Bürgerliche erreicht, sondern auch für rechte junge Männer und unterprivilegierte Menschen zunehmend anschlussfähig ist.


2183 wörter
~9 minuten

Die Volkswirtschaften des Westens: gefangen und auf dem Weg in den Sozialismus. Marktversagen: ein Oxymoron! Von Kommunisten und Sozialdemokraten über Faschisten und Nazis bis hin zu Keynesianern, Nationalisten und Globalisten: alle bloß Varianten des gleichen Kollektivismus. Diese Thesen wurden vom argentinischen Präsidenten Javier Milei Ende Jänner auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos doziert (siehe dazu auch den Beitrag von Christian Dürr ab Seite 14). Donald Trump, Elon Musk oder auch Marcos Galperín, der reichste Mann Argentiniens, jubilierten, andere fanden seinen Auftritt hingegen bizarr bis peinlich. Unstrittig ist: Milei ist überzeugt von dem, was er propagiert.

Um den ehemaligen TV-Ökonomen ranken sich schillernde Anekdoten. Sie erzählen vom Schwingen der Kettensäge, geklonten Hunden, Cosplay-Auftritten als Captain Ancap oder von einem Medium, das Milei mit den Toten sprechen lässt. Seine ökonomischen Überzeugungen sind allerdings nicht weniger schrill. Und Milei folgt ihnen wie religiösen Glaubenssätzen. Der Präsident Argentiniens ist auf einer Mission. Doch wohin führt diese?

Als Javier Milei im Dezember letzten Jahres das Präsidentenamt übernahm, befand sich das Land erneut in einer tiefen Krise. Die strukturellen Probleme der argentinischen Wirtschaft reichen Jahrzehnte zurück. Milei will die gegenwärtige Krise dazu nutzen, den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in hohem Tempo voranzutreiben. Je größer das Leiden, desto stärker die Einsicht, dass sich radikal etwas ändern muss, ist das Kalkül. Denn Mileis Pläne für die argentinische Wirtschaft gleichen einer Abrissbirne. Spielte die heimische Industrie bisher noch immer eine wichtige Rolle, zielen Mileis Maßnahmen auf Rohstoffexporte und billige Dienstleistungen ab. Hinzu kommen Pläne für die Privatisierung staatlicher Betriebe, die Öffnung geschützter Sektoren für das internationale Kapital, die Abschaffung von Subventionen für öffentliche Dienstleistungen und das Ende öffentlicher Infrastrukturprojekte. Ziel all dieser Maßnahmen ist es, bei gleichbleibenden Löhnen die lokalen an die internationalen Preise anzupassen. Am Ende soll die Dollarisierung der argentinischen Ökonomie stehen, also der US-Dollar als Ersatz für eine eigene Landeswährung eingeführt werden. Sie würde das neue Wirtschaftsmodell zementieren.

Um diese Pläne durchsetzen zu können, müssen die Rechte der Lohnabhängigen radikal beschnitten, Protestmöglichkeiten unterdrückt und der Widerstand der Gewerkschaften gebrochen werden. Die aktuelle Inflation – bzw. die Gefahr einer Hyperinflation – dient Milei als Begründung für seine Maßnahmen und als Disziplinierungsmechanismus gleichermaßen. Milei versteht Inflation als ein ausschließlich geldpolitisches Phänomen, das verschwände, sobald man das Haushaltsdefizit und dessen Finanzierung durch die »Notenpresse« stoppte. Bis dahin dient sie als willkommener Mechanismus, um Löhne zu drücken. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF)mahnte deshalb zuletzt zur Umsicht und dazu, die Folgen der Maßnahmen auf sozialer Ebene besser abzufedern. Die Regierung hatte angekündigt, nicht nur das Haushaltsdefizit senken, sondern sogar einen Überschuss von zwei Prozent erzielen zu wollen. Allein die dafür nötigen Einsparungen würden das BIP um sechs Prozent schrumpfen lassen. Milei weiß das. Für ihn sind die Vertiefung der Krise und deren soziale Folgen keine Kollateralschäden, sondern notwendige Schocktherapie und einkalkulierte Disziplinierung auf dem Weg hin zu seiner Vision von Freiheit.

Für immer frei

Den Weg ebnen sollten eigentlich ein Dekret des Präsidenten (»Grundlagen für den Wiederaufbau der argentinischen Wirtschaft«) und ein über 600 Artikel umfassendes Gesetz mit dem Namen »Grundlagengesetz und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier«. Als geistiger Vater der Legistik gilt Federico Sturzenegger. Sturzenegger war unter Mileis Vorvorgänger Mauricio Macri von 2015 bis 2018 Präsident der argentinischen Zentralbank. Schon 2001 war er in die kontroverse Umschuldung im Zuge des Staatsbankrotts involviert, an deren Ende hohe – manche meinen, viel zu hohe – Gewinne für die Gläubiger standen.

1991 promovierte der Ökonom am Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter Rüdiger »Rudi« Dornbusch. Dornbusch, geboren im deutschen Krefeld, hatte gemeinsam mit Sebastian Edwards schon im Jahr 1990 einen vielbeachteten Aufsatz verfasst, in dem sie das wirtschaftspolitische Scheitern Lateinamerikas auf einen »makroökonomischen Populismus« zurückführten: Übermäßige Staatsausgaben und eine Politik der hohen Löhne hätten zu einer gesteigerten Konsumnachfrage und damit zur Inflation geführt, auf die der Populismus wiederum mit Preiskontrollen und Lohnanpassungen reagiert habe. Der schwindende Effekt dieser Maßnahmen, so schrieben die Autoren, habe in die Stagflation und schließlich zum wirtschaftlichen (Hyperinflation, Kapitalflucht) und politischen Zusammenbruch geführt. Nachfolgenden Regierungen blieben nur noch orthodoxe Stabilisierungspolitiken als Option – mit Löhnen weit unter dem Niveau der Zeit vor Beginn des Zyklus.

Neue Wählergruppen für Milei

Während Dornbusch und Edwards mit ihrem Zyklus des makroökonomischen Populismus historische Erfahrungen analysierten, lesen Milei und seine Berater das Modell als Fahrplan. Die derzeitigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zielen darauf ab, eine Stagflation herbeizuführen. So sollen Ausgaben und Löhne radikal zurechtgestutzt werden. Inflation und Instabilität schwächen außerdem den Peso weiter und fungieren als Triebkräfte für den von der Regierung euphemistisch so benannten »freien Währungswettbewerb«. Dieser sieht neben dem Peso weitere Währungen als offizielle Zahlungsmittel vor, um eine Dollarisierung von unten einzuleiten. Erst einmal dollarisiert, wären zukünftigen Regierungen und der Zentralbank wichtige makroökonomische Steuerungsinstrumente dauerhaft genommen.

Milei erklärt die Einschnitte zu einem notwendigen Reinigungsprozess, zu einem schmerzhaften Neustart in eine glorreiche Zukunft Argentiniens. In der Bevölkerung kommt das durchaus an. Zuletzt hat sich immer mehr Ratlosigkeit über die zyklische Heimsuchung durch kleinere und größere Krisen breitgemacht. Gerade die jüngeren Argentinierinnen und Argentinier sind frustriert. Während des Wahlkampfs war in den sozialen Medien der Slogan »Milei oder Ezeiza« zu lesen – Ezeiza heißt der internationale Flughafen von Buenos Aires, sprich: Eine Generation drohte mit dem Exodus.

Parallel dazu ist in Argentinien in den letzten Jahren eine breit verankerte und ideologisch gefestigte Rechte entstanden. Und es ist Milei gelungen, neue Wählergruppen für sein Projekt zu gewinnen. Bis zu seiner Wahl letzten November galt in Argentinien die ökonomische Position als sehr präziser Indikator für das individuelle Wahlverhalten: Die ärmeren Bevölkerungsschichten wählten traditionell eher peronistisch, die Gutbetuchten konservative oder rechte Parteien. Milei gewann in den traditionell antiperonistischen Hochburgen, in der Provinz Cordoba sogar mit 74 Prozent der Stimmen. Er gewann aber auch überdurchschnittlich viele Stimmen in den »barrios populares« genannten Armenvierteln und dem traditionell peronistischen Lager. Milei steht also im Zentrum einer in Argentinien erstmals so vorkommenden »popularen« Rechten, die habituell, in ihrer Ansprache und mit ihrer Erzählung unterprivilegierte Klassen in ihren proletarischen Alltagserfahrungen abholt.

Im Zuge der Wahlanalysen wurde immer wieder der Rappi-Fahrer für Erklärungen herangezogen. Rappi ist der Name einer kolumbianischen Lieferplattform, ähnlich Uber Eats oder Delivery Hero. Das Geschäftsmodell basiert wie bei den meisten Plattformunternehmen auf der Prekarisierung ihrer Beschäftigten. Diese sind scheinselbstständig, wobei diese Scheinselbstständigkeit wahlweise als Freiheit, Unternehmertum oder Aufstiegschance vermarktet wird. In Argentinien trifft diese Art der Plattformökonomie auf einen informellen Sektor, der sich in den letzten Jahren stark ausgeweitet hat. Weit über 40 Prozent aller Beschäftigten waren im letzten Jahr in der informellen Ökonomie tätig. Für sie gelten kaum Arbeitnehmerrechte. Wie Studien zeigen, hat sich in den letzten Jahren auch eine wachsende Kluft zwischen den argentinischen Lohnabhängigen im formellen und jenen im informellen Sektor aufgetan. Unter Letzteren findet Milei viel Zuspruch. Die Knochenmühle der entfesselten Dienstleistungsmärkte ist für diese Gig-Worker bereits jetzt Realität. Das tagtägliche Hetzen von Auftrag zu Auftrag ist für sie längst Alltag.

Natürlich arbeitet nicht die gesamte argentinische Bevölkerung für Rappi, die zunehmende Fragilität des Alltags entspricht aber einer verbreiteten Wahrnehmung. Die Prekarisierung reicht dabei über die Arbeitswelt hinaus und erklärt, warum das Milei’sche Projekt in diesen Alltagserfahrungen Resonanz erzeugt – und warum es politisch so gefährlich ist. Das Interpretationsangebot von Milei ist durchaus kohärent mit diesen Erfahrungen. »La patria es el otro«, lancierte Cristina Fernández de Kirchner in ihrer zweiten Amtsperiode als Losung. Unter Milei ist »der andere« aber nicht »Heimat«, sondern bloß stetiger Konkurrent und Bedrohung. Es herrscht ein Survival of the Fittest, in dem andere Akteure als das Individuum nicht vorgesehen sind und jeder und jede schließlich für sich selbst verantwortlich ist. Und so wird die kollektive Organisierung zum unlauteren Wettbewerbsvorteil, die gewerkschaftliche Organisierung zur korrupten Machenschaft, die soziale Bewegung zur kriminellen Vereinigung. Gesellschaft muss zerschlagen werden, damit das Individuum ökonomisch prosperieren kann.

Jung, männlich, präpotent

Der Aufstieg Mileis ist aber auch Teil einer globalen Radikalisierung rechter Kräfte. Mauricio Macri und seine »Revolution der Freude« vor fast zehn Jahren folgten noch in Perfektion den Leitlinien der Postpolitik. Seinen Anti-Kirchnerismus musste Macri mit einer apolitischen Rhetorik der Versöhnung komplementieren, seine wirtschaftspolitische Agenda mit einer gemäßigten Sozialpolitik maskieren. Milei hingegen schreit seine Überzeugungen und Pläne ganz offen heraus.

Die unterschiedlichen Spielarten und historischen Vorläufer eines solchen liberalen Autoritarismus hat Quinn Slobodian in seinem letzten Buch Kapitalismus ohne Demokratie nachgezeichnet. Schon Milton Friedman sah einen Zielkonflikt zwischen wirtschaftlicher und politischer Freiheit. Erstere um jeden Preis durchsetzen zu wollen ist der Markenkern dieser Traditionslinie. Und Umfragen zeigen: Mittlerweile teilen viele Wählerinnen und Wähler diese Positionen.

Damit reiht sich das Phänomen Milei in einen weltweiten Trend ein. Seine Basis ist nicht nur jung, sondern auch stark männlich geprägt. Vor wenigen Wochen sorgte ein Artikel in der Financial Times international für Diskussionsstoff. Der Kolumnist John Burn-Murdoch diagnostizierte eine wachsende politische Kluft zwischen jungen Frauen und Männern. Junge Männer würden zunehmend konservative oder sogar weit rechte Positionen vertreten. Das Polder-Projekt, das Polarisierungstendenzen in Lateinamerika sozialwissenschaftlich untersucht, kommt für Argentinien zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Die politische Kluft zwischen den Geschlechtern ist in keiner Alterskohorte so groß wie unter den 18- bis 25-Jährigen. Argentinische Männer unter 25 tendieren stark zu konservativen Haltungen, sie sind gegen Sozialprogramme und für »den Markt«. Außerdem sind sie der Ansicht, dass die rechtlichen Fort­­schritte der letzten Jahre im Bereich von Geschlechterpolitik und sexueller Vielfalt exzessiv seien. Solche Studien und das Phänomen Milei lassen wenig Zweifel: In Argentinien ist eine junge, männliche und antifeministische Basis »in the making«.

Mileis Hasstiraden gegen einen »Kulturmarxismus«, sein Wittern eines blutigen Plans hinter dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder seine sexistischen Grenzüberschreitungen sind also kein Zufall. Provokation und Transgression gegen eine vermeintliche Hegemonie von wahlweise woken Eliten, dem Sozialismus oder Gutmenschen sind für junge Männer häufig der Einstieg in den Kaninchenbau rechtsradikaler Ideologien. Der Weg hinunter in dessen Tiefen wird im Falle des Milei’schen Projekts gesäumt von ökonomischen Theorien, volkswirtschaftlichen Kennzahlen und großen Ökonomen als Stichwortgebern. Mit einer Geste der Radikalität lassen sich dann Jahrhunderte an wirtschaftswissenschaftlicher Forschung wegwischen und das eigene Phrasen- und Halbwissen zur objektiven Wahrheit erklären. Provokation paart sich mit Präpotenz. 

Radikaler Individualismus

In TAGEBUCH N° 12/1|23/24 erörterte Benjamin Opratko die Frage, ob der Faschismus global wieder auf dem Vormarsch sei. Lässt sich im Anschluss an seine Überlegungen das Milei’sche Projekt als »faschistisch« beschreiben? Zweifelsohne ist der argentinische Präsident fester Teil einer globalen rechten Bewegung. Sowohl auf der Ebene der Ideen als auch in seiner Rhetorik spiegelt er mehr noch einen weiteren Radikalisierungsschritt der Rechten wider. Mit dem Faschismus teilt er dessen wahnhafte gefühlte Bedrohung durch eine Linke. Und die Lust, mit der der Präsident und seine Anhänger Vernichtungsfantasien zelebrieren und zur Schau stellen, lässt aufhorchen. Trotzdem wäre der Begriff »faschistisch« für das Projekt Mileis irreführend. Opratkos These, dass das Umschlagen von Rechtspopulismus in Faschismus an jenem Punkt zu finden sei, an dem Apathie und Passivierung in Mobilisierung und kollektive Gewalt übergehe, leuchtet ein. Der Faschismus benötigt eine starke Zivilgesellschaft, keine atomisierten Monaden. Doch gerade auf Letzteres ist Milei aus. Im Zentrum seiner Vorstellungen steht im Unterschied zum Faschismus keine organizistische Gesellschaftsvorstellung, sondern ein radikaler Individualismus. Mileis Projekt zielt bislang genau auf die Zersetzung der historisch starken argentinischen Zivilgesellschaft ab.

Nicht vorhersehbar ist fraglos, was noch kommt. Aktuell liegt der autoritäre Kern aber vor allem in der Weigerung, die Komplexität von Gesellschaft überhaupt anzuerkennen. Die Unordnung des menschlichen Daseins ist für Milei nur ein Störfaktor für die eigenen theoretischen Modelle. Ineffizienzen oder schlicht abweichende Interessen geraten so schnell zur Verschwörung gegen eine objektive Wahrheit. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch das bisweilen unkluge politische Handeln Mileis in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft. Obwohl Teile der Opposition mehr als gewillt sind, die wichtigsten Elemente seines Programms mitzutragen, konnte er sie bislang nicht oder nur teilweise für seine Sache gewinnen. Anstatt zu priorisieren, Kompromisse zu schließen, Zugeständnisse zu machen, beschimpft, bedroht und erpresst Milei potenzielle Mitstreiter. Politik ist definitionsgemäß die Ausverhandlung unterschiedlicher Interessen. Je nach politischem Standort mögen manche Interessen legitimer, andere weniger legitim sein. Zweifelsohne sind sie aber vorhanden. »Ich tue, was laut den Büchern zu tun ist«, erklärte sich Milei dagegen in der Financial Times Ende Februar. Dafür scheinen er und seine Unterstützer gewillt, einem ganzen Land ihr Modell aufzuzwingen – und Argentinien in ein riesiges Labor für einen liberalen Autoritarismus zu verwandeln.

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