Palästina-Paranoia

von Benjamin Opratko

In ihrer Unterstützung für Israel greifen immer mehr Menschen auf verschwörungstheoretische Repertoires zurück.

Im Mai verbreitete Ofir Gendelman, Sprecher des israelischen Premierministers, Bilder eines scheinbar verletzten palästinensischen Kindes in einer Bombenruine. Das Kind, vielleicht zehn Jahre alt, liegt in dem Video zunächst blutüberströmt unter Schutt, um dann aufzustehen und mit zwei lächelnden Männern an der Kamera vorbeizugehen. Gendelman schrieb dazu: »A Hamas child actor in Gaza.« Tatsächlich handelt es sich bei dem Clip um Bilder aus einem zwei Jahre alten Film über die Arbeit von Feuerwehrleuten. Die Darstellung Gendelmans blieb stehen, auch nachdem andere User sie bereits als falsch entlarvt hatten. Knapp 200.000 Nutzer:innen haben das Video seither gesehen. Unter den Hashtags #Pallywood und #Gazawood wird es neben vielen anderen Fälschungen weiterverbreitet und raunend kommentiert. Das Elend und Leid »der Palästinenser« gäbe es gar nicht, die toten, versehrten, verwaisten und hungernden Kinder wären Teil einer großen Inszenierung, eben Pallywood statt Hollywood, eine Art Albtraumfabrik der antisemitischen Lumpen.

Dass Kriegsparteien Propaganda und Fälschungen einsetzen, ist weder neu noch auf die israelische Seite beschränkt. Bemerkenswert ist aber, dass im aktuellen Konflikt gerade Unterstützer:innen Israels mit Fortdauer des Krieges auf verschwörungstheoretische Repertoires zurückgreifen. Amnesty International, Greta Thunberg, Uni-Proteste, Yanis Varoufakis, der Internationale Strafgerichtshof, die globale Kunst-, Kultur- und Filmszene, Human Rights Watch, die Uno, der Iran und Judith Butler: Sie alle werden zum Teil einer verborgen agierenden antisemitischen Internationale erklärt – oder zu naiven Handlangern der Hamas.

Diese paranoide Form des Ticketdenkens kennen wir eigentlich vor allem vom Antisemitismus selbst. Schon als christlicher Antijudaismus hat dieser die Form des »Gerüchts über die Juden« (Adorno) angenommen. Später verband die bürgerliche Gesellschaft den Vorwurf der Kabale mit neuen Verschwörungsmythen und brachte den modernen Antisemitismus hervor, der jüdischen Strippenziehern die Macht zuschreibt, die Welt im Geheimen zu beherrschen und sie zugleich darüber zu täuschen. Verschwörungstheorien haben deshalb eine strukturelle Nähe zum Antisemitismus, selbst wenn sie nicht von Juden sprechen. Dass sie nun, paradox gewendet, im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus in die Welt gesetzt werden, zeigt eine unheimliche Ausbreitung des kalten Ressentiments an.  

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