Kulturkampf um Kafka

von David Mayer

Tagebuch, Nr. 11, November 1963


526 wörter
~3 minuten

In diesem Kafka-Jahr weitgehend unerwähnt blieb bisher die Rezeptionsgeschichte Kafkas im Staatssozialismus, insbesondere in der Tschechoslowakei und der DDR. Der deutschsprachige Autor aus Prag, dessen Todestag sich am 3. Juni zum hundertsten Mal jährte, wurde im Rahmen der staatsoffiziellen Kulturpolitik nicht verlegt. Die von Kafka erkundeten Themen der Entfremdung und des Ausgesetzseins gegenüber undurchsichtigen staatlich-bürokratischen Apparaten wurde im Westen früh als Kritik am Sozialismus munitioniert, im Osten galt Kafka als Beispiel bürgerlicher Dekadenz. Einen innersozialistischen Aufbruch wagte im Mai 1963 eine internationale Kafka-Tagung auf Schloss Liblice in der Tschechoslowakei. Eine besondere Rolle spielte dabei Ernst Fischer, Mitherausgeber des damals monatlich erscheinenden Tagebuch. Er trat nicht nur für einen ästhetisch-stilistischen Pluralismus in der Literatur ein, sondern betonte, dass das Thema »Entfremdung« auch für sozialistische Gesellschaften von Relevanz war. Im Tagebuch wurden die Debatten der Kafka-Konferenz ab Sommer 1963 über mehrere Ausgaben mit Beiträgen von Eduard Goldstücker, Ernst Fischer, Bruno Frei, Alfred Kurella, Werner Mittenzwei, Roger Garaudy und anderen abgedruckt. Die harte, einem überkommenen sozialistischen Realismus verpflichtete Linie vertrat Alfred Kurella, der eher berüchtigte denn berühmte DDR-Kulturfunktionär. Die Kernmetapher seiner Kafka-Verurteilung bildete die »Fledermaus«; Ernst Fischer zitierte die von Roger Garaudy ins Spiel gebrachte »Schwalbe«.
 

Ernst Fischer

Die Schwalbe war’s und nicht die Fledermaus

Die [...] Ende Mai dieses Jahres in Liblice veranstaltete Kafka-Konferenz hat sowohl in der sozialistischen wie in der kapitalistischen Welt ungewöhnlichen Widerhall gefunden.

[...]

Was für den einen die Schwalbe, ist für den andern die Fledermaus. Was für Roger Garaudy Beginn des Neuen, Ankunft der Schwalben war, empfand in der DDR der tonangebende Kulturpolitiker Alfred Kurella als Ende eines alten Tags, als Aufbruch der Fledermäuse. 

[...]

Die Delegierten der DDR vermochten uns nicht zu überzeugen, daß Kafka unzeitgemäß sei, als Dichter der Dekadenz Marxisten nichts zu sagen habe, für sozialistische Länder, da es in ihnen keine Entfremdung mehr gebe, einer irrelevant gewordenen Vergangenheit angehöre. Aus dieser Meinungsverschiedenheit ergab sich eine echte Diskussion zwischen Kommunisten [...]. Die Zeit der Monologe innerhalb der kommunistischen Welt geht zu Ende. Die Fiktion einer monolithen für alle Kommunisten verpflichtenden Ästhetik läßt sich nicht aufrechterhalten. 

[...]

Und wenn das Wort »Dekadenz!« zum Schlachtruf gegen moderne Kunst seit Baudelaire und Manet geworden ist, gilt es, gegen eine das Kunstwerk zum unmittelbaren Reflex gesellschaftlicher Verhältnisse degradierende Vereinfachung anzukämpfen.

[...]

[Es ist] geboten zwischen Schriftstellern und Künstlern, die eine morbide, egoistische nichtsnutzige Oberschicht verherrlichen wie etwa d'Annunzio, und solchen, die sich gegen eine Welt der Entfremdung, der Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit auflehnen wie etwa Kafka, zu unterscheiden; dekadent ist eine Kunst der Übereinstimmung mit der Dekadenz, nicht aber eine sie diagnostizierende, selbst dann, wenn sie mit keinem rettenden Rezept zur Hand ist.

[...]

Die Diskussion um Kafka geht, darin stimme ich mit Kurella überein, weit über Kafka hinaus. Wenn Roger Garaudy und mit ihm die meisten Teilnehmer an der Kafka-Konferenz
diese als Symptom eines neuen Frühlings empfanden, so darum, weil der Kampf um die Anerkennung Kafkas einen Kampf gegen das den Marxismus verarmende »Ist doch alles klar!« bedeutet, ein Suchen nach neuen Erkenntnissen in so wichtigen Fragen wie Entfremdung, Dekadenz, Realismus, Freiheit der Kunst [...].
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