Ohr, Nase, Bauch

von Benjamin Opratko

Editorial TAGEBUCH 5|2024

Am 7. April 1926 schoss Violet Albina Gibson, geboren 1876 in Dublin, dem Duce des Faschismus fast die Nase weg. Wie wäre wohl die Geschichte Italiens, Europas, der Welt verlaufen, hätte Benito Mussolini nicht in der Sekunde den Kopf zur Seite gedreht, um seinen jungen Verehrern den römischen Gruß zu entbieten? So aber war es nur ein perforierter Nasenflügel, Mussolini zeigte sich dem Volk am Tag danach mit einem großen weißen Pflaster im Gesicht, sonst unverletzt. »Eine Aura der Vorhersehung beginnt die Figur des Duce zu umstrahlen«, heißt es in Antonio Scuratis Mussolini-Chronik M dazu. Regierungschefs und Staatsoberhäupter aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA bekundeten per Telegramm ihre Freude ob des glimpflichen Ausgangs.

Das Attentat vom 7. April war bereits das zweite, das Mussolini innerhalb eines halben Jahres überlebte, zwei weitere sollten noch im selben Jahr folgen. Nachdem am 31. Oktober schon wieder jemand an ihm vorbeigeschossen hatte, nutzte Mussolini die Tat als Vorwand, um die Reste der Demokratie in Italien zu beseitigen. Noch im November 1926 ließ er alle antifaschistischen Parteien, Organisationen und Publikationen verbieten. Im selben Monat schrieb die Washington Post vom »Glück für Italien, dass Mussolini verschont blieb«. Der Duce des Faschismus sei »ein mutiger Mann, der dem Tode trotzt, indem er seine Pflicht erfüllt. Er siegt und verdient die Bewunderung der Welt. Jeder, der den Kommunismus und die von ihm hervorgebrachten Mörder verabscheut, muss inständig hoffen, dass Benito Mussolini sein wundersames Leben erhalten bleibt.«

Ein knappes Jahrhundert später geht das Foto von Donald Trump um die Welt, wie er soeben sein erstes Attentat übersteht – mit blutendem Ohr, die rechte Faust in die Luft gereckt und einer im Hintergrund wehenden Fahne der Vereinigten Staaten. Als die Republikaner ihn zwei Tage nach dem Mordversuch zum zweiten Mal als ihren Präsidentschaftskandidaten nominieren, klebt ein weißes Pflaster auf Trumps rechtem Ohr. Wiederum zwei Tage später kleben sich seine Unterstützer bei der Republican National Convention die gleichen Pflaster auf die je eigenen Ohren, ein Zeichen der Verbundenheit. In der Berichterstattung mischt sich Sorge mit Erleichterung: Die politische Gewalt sei erschreckend, ein Glück sei es aber allemal, dass Trump verschont blieb. Diesmal ist in der Washington Post zu lesen, dass der »Survivor« Trump das Land vereinen könne. Der Autor des Kommentars war einst Redenschreiber von George W. Bush, die Post gehört inzwischen dem Amazon-Multimilliardär Jeff Bezos, der noch etwas reichere Elon Musk kündigte am Tag nach dem Attentat an, sein Vermögen Trump anzudienen.

2024 ist ein globales Wahljahr, und es scheint um vieles zu gehen, manche meinen um alles. Der lange Schatten des Faschismus dunkelt die Gegenwart ein. Statt eines Gegenpols bilden sich Sammelbewegungen der kleineren Übel. In Frankreich musste eine »Neue Volksfront« die Geister von 1936 beschwören, um dem Rechtsextremismus den Zugang zur Macht zu verwehren. In Großbritannien holte die Labour Party unter Keir Starmer den ersten Platz, Sonja Luksik ordnet den »Erdrutschsieg« ein. Ob in den USA das kleinere Übel eine zweite Präsidentschaft Donald Trumps noch verhindern kann, weiß niemand, die Größe des Übels aber ist sicherlich eine Frage der Perspektive. Von Gaza aus betrachtet stellen sich die Verhältnisse anders dar, sie zurechtzurücken hilft der Holocaust- und Genozidhistoriker Omer Bartov. Gewählt wird schließlich auch in Österreich. Was hierzulande auf dem Spiel steht, vermisst Alfred J. Noll in unserem Schwerpunkt zur Nationalratswahl. Ob die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) zur Hoffnungsträgerin in dunklen Zeiten taugt, sucht das Gespräch mit ihrem Spitzenkandidaten Tobias Schweiger zu klären. Die KPÖ will Angelegenheiten von Leib und Magen ins Zentrum rücken und sich den Spielanordnungen der etablierten Politik entziehen. Ob der Bauch über Ohren und Nasen obsiegt, wird der 29. September zeigen.

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