Die Aussicht, dass Donald Trump nach den Jahren 2017 bis 2021 tatsächlich ein weiteres Mal ins Weiße Haus einziehen könnte, ist Anlass, daran zu erinnern, wie seine erste Präsidentschaft überhaupt möglich wurde. Schließlich haben sich die gesellschaftlichen und politischen Ursachen bis heute kaum geändert. Trumps Wahlsieg erfolgte 2016 nicht nur gegen den Widerstand der republikanischen Elite, sondern auch gegen den eines Großteils der Medien und der Fortune-500-Konzerne, also der umsatzstärksten Unternehmen der Vereinigten Staaten. Die Gegnerschaft zu Trump hatte Gründe: Im Wahlkampf hatte er mit dem parteiübergreifenden Elitenkonsens gebrochen und einen wirtschaftsnationalistischen und vor allem außenpolitisch isolationistischen Kurs versprochen. Die Infragestellung des »Empire« war für diese Kräfte ein No-Go.
Trumps Sieg symbolisierte einen Kontrollverlust der transnational-imperialen Kapitalfraktion, die im Machtblock dominierte und nach wie vor dominiert. Möglich wurde er durch eine brutale Repräsentationskrise. Die Zustimmungswerte hinsichtlich sämtlicher Institutionen der Politik, vor allem des Kongresses, erodierten nach der globalen Finanzkrise von 2007ff in historischem Ausmaß. Die US-Politik ist seither geprägt von einem populistischen Klima, das sowohl von rechts als auch von links bedient wird. In diesem Klima konnte sich Trump erfolgreich als Anti-Establishment-Kandidat inszenieren. Die Legitimationskrise machte 2016 ein doppeltes Novum möglich: Während bei den Demokraten die linkssozialdemokratische Graswurzelrevolte von Bernie Sanders entstand und erst durch die Machenschaften des Parteiapparats zum Scheitern gebracht werden konnte, gelang es der wütenden Basis der Republikaner bei deren Vorwahlen nach Jahrzehnten erstmals wieder, ihren präferierten Kandidaten – in diesem Fall Trump – gegen den erklärten Willen der Parteielite durchzusetzen. Dabei blieb es nicht, am Ende konnte er sogar Präsident werden – völlig entgegen mainstream-politikwissenschaftlichen Gewissheiten, wonach zu »ideologische« Kandidaten in Zweiparteiensystemen notgedrungen verlieren müssten, wie etwa der Rassist und Radau-Antikommunist Barry Goldwater 1964 oder der linke George McGovern 1972.
Warum es 2016 anders kam, hatte zweifelsohne sozioökonomische Gründe, die in der Politik von Trumps Vorgänger Barack Obama zu suchen sind, der als Exit-Strategie aus der globalen Finanzkrise einen Kurs der »inneren Abwertung« von Kosten und Löhnen, also eine klassische Austeritätspolitik verfolgte. Unter Obama wurden im Namen der Wettbewerbsfähigkeit die Löhne für neue Beschäftigte in der notverstaatlichten Autoindustrie halbiert. Seine zögerliche Fiskalpolitik führte dazu, dass die Einkommens- und Vermögensungleichheit, die Prekarität am Arbeitsmarkt und die Zahl der Bullshit-Jobs massiv anstiegen: Nach einer Studie der US-Notenbank Fed lag in jenen Jahren jeder fünfte verlorene Job im Niedriglohnsektor, unter den neu entstandenen war es dagegen jeder dritte. Im Ergebnis wuchs die Zahl derer, die seither – einer weiteren Studie der Fed zufolge – von »paycheck to paycheck« leben, die also über keinerlei Ersparnisse verfügen, um auf Eventualitäten wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Zinserhöhungen für Immobilien oder Studienschulden, Inflation oder die Geburt eines Kindes zu reagieren, auf über 40 Prozent an.
Aspekte der Trump-Präsidentschaft
Nachdem der rechtsautoritäre Nationalismus erfolgreich an die Schalthebel der politischen Macht gelangt war, ließ sich vier Jahre lang studieren, was die Rechte macht, wenn sie Macht hat. Das galt für die USA, aber auch für viele andere Groß- und Regionalmächte von Brasilien bis Indien. Drei Szenarien schienen in Bezug auf die USA damals plausibel: erstens die Durchsetzung des versprochenen ökonomischen Nationalismus mit starken protektionistischen Zügen und außenpolitischem Isolationismus gegen den bisherigen Konsens von »Freihandel« und »Empire«; zweitens die Einhegung des rechtsautoritären Nationalismus durch die bislang dominante transnational-imperiale Fraktion im Machtblock im Sinne von »Freihandel« und »Empire«; und drittens schließlich – in Analogie zur Faschismusanalyse des deutsch-amerikanischen Politikwissenschafters Franz Neumann – ein »Behemoth-Szenario«, in dem sich verschiedene Teile des Staatsapparates wechselseitig blockieren und bekämpfen.
Nach vier Jahren Trump-Präsidentschaft ließen sich Aspekte aller drei Szenarien konstatieren. Das »Behemoth-Szenario« fand Widerhall in den Auseinandersetzungen zwischen den demokratisch kontrollierten Bundesstaaten und der Trump-Regierung und in der Nichtumsetzung von Regierungsmaßnahmen seitens städtischer und einzelstaatlicher Behörden – etwa im Umgang mit papierlosen Einwanderern oder Demonstrationen der Black-Lives-Matter-Bewegung. Der »ökonomische Nationalismus« wiederum, der Trump im Mittleren Westen zum Sieg verholfen hatte, besetzte Teile des Staatsapparats, inklusive neu geschaffener Behörden wie des Office of Trade and Manufacturing Policy.
Zugleich war allerdings auch der Niedergang des ökonomisch-nationalistischen Flügels in der Regierung Trump, versinnbildlicht in der Kabinettszusammensetzung und in der schrittweisen Entmachtung von Trumps Berater Steve Bannon, unübersehbar. Nach vier Jahren Trump erwies sich, dass seine Administration weitgehend von der transnational-imperialen Fraktion im Machtblock eingehegt wurde bzw. selbst immer Teil hiervon war.
Trumps »Empire«-Kritik während seines Wahlkampfs hielt zunächst einmal stand: Anders als seine Vorgänger, einschließlich Ronald Reagan, startete er keine neuen Kriege – wenigstens nicht mit unmittelbar militärischen Mitteln. Allerdings war dies offenbar auf das Zusammenwirken verschiedener Kräfte zurückzuführen, die im Falle von Venezuela (Pentagon), des Iran (Fox News / Tucker Carlson) und auch Nordkoreas Trump davon abhielten, neue Luft- oder gar Besatzungskriege zu führen. Die Verlegung der israelischen Hauptstadt nach Jerusalem goss wiederum erheblich Öl ins Feuer des heute eskalierten Nahostkonflikts.
Anti-Trump-Stimmung
2021 war für Trump schon wieder Schluss – eine narzisstische Kränkung, die ganz offensichtlich bis heute nachwirkt. Die Republikaner verbreiteten die Behauptung, er könne gar nicht verloren haben; der Unterlegene stachelte seine radikalisierte Anhängerschaft auf, kurz vor Bidens Amtseinführung das Parlamentsgebäude in Washington zu stürmen. Fünf Menschen bezahlten das mit ihrem Leben.
Dabei gab es für Trumps Niederlage ausreichend Gründe: Seine Amtszeit war geprägt von einem extrem wirtschaftsliberalen Kurs, bei dem die Unternehmenssteuern von 35 auf 21 Prozent und der Spitzensteuersatz auf Jahreseinkommen von über 518.400 US-Dollar (Einpersonenhaushalte) bzw. 622.050 US-Dollar für Verheiratete von 39,6 auf 37,0 gesenkt wurden. Umweltauflagen für das Kapital wurden indes radikal dereguliert. Die Steuersenkungen zugunsten von Superreichen und Konzernen sollten – so Trumps damalige Propaganda im Namen der Arbeiterklasse – die Wirtschaft ankurbeln, sich dadurch selbst finanzieren und das Lohnniveau ganz ohne gewerkschaftliches Organizing und Klassenkampf auf ein historisch neues Niveau heben.
Freilich war das Ergebnis vorhersehbar: Während die Reallöhne stagnierten, verdoppelte sich unter Trump das Haushaltsdefizit von zuvor 585 Milliarden auf annähernd 1,1 Billionen US-Dollar; die nationalen Schulden stiegen um fast 50 Prozent von 20 auf 28 Billionen. Neben Trumps Laisser-faire in der Corona-Krise, das am Ende mehr als eine Million US-Bürger mit dem Tod bezahlten und das schonungslos das Grauen des US-Gesundheitssystems – Ursache Nummer eins für Privatinsolvenz! – offenlegte, trug diese Bilanz zu einer Anti-Trump-Stimmung bei, die die Amtszeit des »stable genius« (Trump über Trump) bereits nach einer Legislatur beendete. Seine Umfragewerte waren vor dem Hintergrund seiner gebrochenen Wahlversprechen so rapide wie bei keinem anderen Präsidenten in der jüngeren Vergangenheit eingebrochen. Schon Anfang August 2017, also ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt, war Trump unter die kritische Marke von 40 Prozent Zustimmung gefallen. Eine Mehrheit der Bevölkerung hatte er nie hinter sich. Die Anti-Establishment-Stimmung in Bezug auf die Arbeit des Kongresses blieb zudem ebenfalls erhalten. Im September 2020 lag sie kaum verändert bei 77 Prozent Ablehnung.
»Das Besondere an Bidens ›American Rescue Plan‹ war: Diesmal profitierten davon nicht primär die Konzerne, sondern die Arbeiterklasse. Insgesamt gingen 2,2 Billionen direkt an Arbeiterfamilien, 870 Milliarden an Kommunal- und Bundesstaatsregierungen, inklusive 200 Milliarden für öffentliche Schulen. 865 Milliarden flossen in die Krankenversicherung.«
Die Wahl Joe Bidens im November 2020 sollte sich wiederum nicht als eine Pro-Biden-, sondern als eine Anti-Trump-Wahl erweisen. Biden verdankte seine Nominierung erneuter brachialer Einflussnahme des Parteiestablishments, um die zu diesem Zeitpunkt aussichtsreich scheinende Nominierung des linken Bernie Sanders zu verhindern. Die Wall Street bedankte sich hierfür anschließend mit explodierenden Börsenkursen. Die »Milliardärsklasse«, gegen die Sanders zu Felde gezogen war, hatte offenkundig befunden, dass sie den Ausgang der Wahl nicht mehr zu fürchten hatte. Am Ende siegte Biden, aber sein Sieg hätte angesichts des Vermächtnisses von Trump erdrutschartig ausfallen müssen.
Bidens Programmatik war ein Realitätscheck. Hatte Hillary Clinton noch mit der Botschaft »America Is Already Great« Schiffbruch erlitten, hatte Biden seine Kampagne an die Realität angedockt. Sein »Make America Great Again« hieß »Build Back Better«. So unterschiedlich sie auch waren, war beiden Visionen das stille Eingeständnis inhärent, dass es Amerika und vor allem der amerikanischen Arbeiterklasse einst besser ging. Es war die Anerkennung der Erosion der lohnarbeitenden Einkommensmittelklassen, die in den USA durch drei Faktoren bedingt ist: eine starke Deindustrialisierung, den fundamentalen Sieg des Kapitals über die Gewerkschaften, der auch im Vergleich zu den anderen kapitalistischen Staaten des »freien Westens« beispiellos ist, und die Finanzierung von Studien- und Ausbildungsgängen durch immens gestiegene Gebühren.
Als Biden antrat, sprach er daher davon, »kühn« handeln zu wollen – und eine gewisse Kühnheit kann man ihm in der Tat nicht absprechen. Auf der Basis der damals historisch niedrigen Zinssätze legte er sofort ein großes Konjunkturprogramm auf. Es handelte sich dabei um das dritte Corona-Soforthilfeprogramm mit einem Umfang von 1,9 Billionen US-Dollar. Zusammen brachten es alle drei Programme in seiner Amtszeit auf 5,1 Billionen US-Dollar.
Das Besondere an Bidens »American Rescue Plan« war: Im Gegensatz zu Trumps Vorgängern profitierten davon diesmal nicht primär die Konzerne, sondern die Arbeiterklasse. Insgesamt gingen 2,2 Billionen an Arbeiterfamilien, in Form von Mietzuschüssen, Kindergeld für 69 Millionen Kinder (bis zu 300 US-Dollar pro Kind im Jahr), Ernährungsprogramme, »Konjunkturschecks« über 1400 US-Dollar pro Person und anderes mehr. 870 Milliarden gingen an Kommunal- und Bundesstaatsregierungen, inklusive 200 Milliarden für öffentliche Schulen. 865 Milliarden flossen in die Krankenversicherung. 1,2 Billionen gingen an Unternehmen.
Die Regierung kündigte darüber hinaus ein zusätzliches großes Investitionsprogramm an. Es beruhte auf zwei Säulen, dem »American Jobs Plan« (AJP) und dem »American Families Plan« (AFP) und umfasste ein Gesamtvolumen von vier Billionen US-Dollar. Der 2,3 Billionen schwere AJP war ein ambitioniertes Reformprogramm zur Finanzierung unausweichlicher Investitionen in die bröckelnde Infrastruktur (Straßen, Brücken, aber auch Schulen und öffentlich finanzierter Wohnungsbau), in die Digitalinfrastruktur (Ausbau von Breitband-Internetverbindungen), die Care-Ökonomie (Altenpflege) und den Klimaschutz (Subventionen für Energiedämmung, Forschung und Entwicklung für grüne Technologien, ein an das »Civilian Conservation Corps« im New Deal angelehntes öffentliches Beschäftigungsprogramm für 10.000 bis 20.000 Klimajobs, aber auch Steuervergünstigungen für den Erwerb von E-Autos und die Elektrifizierung des öffentlichen Personennahverkehrs). Der AFP sah vor allem Investitionen in die Care-Ökonomie vor (Ausbau kostenloser Kinderbetreuungseinrichtungen, Elterngeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kostenlose Community Colleges als ein entscheidender Mechanismus des Sozialaufstiegs von Arbeiterkindern, öffentliche Subventionierung für bezahlbare Gesundheitsversorgung usw.). Bidens Pläne liefen faktisch auf das größte Sozialprogramm seit den 1930er-Jahren hinaus.
Linke Wirtschaftspolitik
Bidens Wirtschaftspolitik fiel damit zweifellos erheblich linker aus als jene Obamas. Dabei kamen seine Pläne durchaus überraschend – nicht nur weil Biden Obamas Vizepräsident gewesen war, sondern auch stets ein rechter Demokrat mit einer langen fiskalkonservativen Biografie. Zudem war sein Kabinett, wie üblich, sehr kapitalnah zusammengesetzt, vor allem mit Vertretern der neuen Tech-Kapitalien aus dem Silicon Valley und der Finanzindustrie.
Bidens Maßnahmen ließen sich auf eine Reihe von Gründen zurückführen: Die USA befinden sich erstens seit langem in einem Hegemoniekonflikt mit China und haben spätestens seit Obama, eigentlich aber schon seit George Bush jr. ihre Politik daran ausgerichtet, Chinas Aufstieg zu blockieren. Als das Coronavirus den Westen erreichte, brummte in der Volksrepublik längst wieder die Wirtschaft, und das Corona-Management der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) schien bis dahin vorbildlich. Zeitgleich erlebten die USA dank Trumps Laisser-faire-Politik in der Corona-Krise, die er mit Blick auf die Wirtschaft rechtfertigte, jeden Tag ein 9/11 mit mehr als 3000 Toten. Währenddessen ging das BIP trotzdem um 3,5 Prozent zurück. Als Biden übernahm, war er gezwungen zu handeln.
Zugleich war seine Politik zweitens auch die Lehre aus den Obama-Jahren: 2008 hatten sich die Republikaner infolge des Irakkriegs in einer tiefen Krise befunden. Obama hatte damals erdrutschartig mit einem weitreichenden Mandat für »Hope & Change« gewonnen. Seine zögerliche Politik in der globalen Finanzkrise hatte jedoch schon zwei Jahre später, was undenkbar schien, die Republikaner wieder reüssieren lassen und ihn zu einem von rechts getriebenen, schwachen Präsidenten gemacht, was sich in den Streitigkeiten um die Schuldenobergrenze zeigte, die ihn zu einer noch härteren Austeritätspolitik gezwungen hatte. Das Ergebnis: Trump. Eine Wiederholung dieser Tragödie als Farce wollte Biden vermeiden.
Der Zwang zu handeln war drittens bedingt durch die schwache Entwicklung des Sozialstaats. In den USA ist etwa der Kündigungsschutz inexistent. In kürzester Zeit waren infolge der Corona-Rezession mehr als 20 Millionen Menschen ohne Job. Die Arbeitslosenversicherung ist aber einzelstaatlich organisiert und die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds dank der neoliberalen Clinton-Regierung in den 1990er-Jahren kurz. Sie läuft etwa in Montana nach 28 Wochen aus, in North Carolina gar schon nach. Ähnlich sieht es mit der Krankenversicherung aus, denn sie ist an gute Vollzeitbeschäftigung gekoppelt. Regierungen sind also im Krisenfall zu umso massiveren Maßnahmen gezwungen, wie schon Trumps Corona-Sofortprogramme zeigten, die Biden unter anderen Vorzeichen fortsetzte. Besonders die Bundesregierung muss klotzen, weil die Einzelstaaten auf den Bundesstaat angewiesen sind. Denn mit der Ausnahme von Vermont haben alle »Schuldenbremsen« in ihren Verfassungen verankert, weshalb die Corona-Krise, wie schon die Krise 2007ff, massive Kürzungen in den Bereichen Bildung, Wohnen und öffentlicher Verkehr zur Folge hatte.
Zudem wurde Biden viertens von einer starken innerparteilichen Linken getrieben. Sanders und seine Anhänger in der Partei nahmen wesentlichen Einfluss auf Bidenomics. Und sie konnten sich auf eine zunehmende Offenheit der US-Amerikaner für linkssozialdemokratische Forderungen stützen: Mittlerweile gibt es in Umfragen Zweidrittelmehrheiten für einen bundesweiten 15-Dollar-Mindestlohn, eine kostenlose Gesundheitsversicherung für alle (»Medicare for All«) und für die Abschaffung aller Studiengebühren und Studienschulden. Letzteres unterstützen sogar zwei Fünftel der republikanischen Wähler. Entsprechend waren nach einer YouGov-Umfrage im Auftrag des Economist anfänglich auch 66 Prozent für Bidens Programm, nur 25 Prozent sprachen sich dagegen aus.
Der Kampf der sozialistischen Bewegung richtete sich daher darauf, die Notmaßnahmen in eine dauerhafte Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit auszuweiten sowie einen Ausbau des Sozialstaats und eine Verschiebung des Verhältnisses von Staat und Markt zu bewirken. Hier zeigten sich die Differenzen, da Bidenomics nicht auf die institutionelle Stärkung der Gewerkschaften setzte. Den PRO-Act, die gewerkschaftsfreundlichste Gesetzesinitiative seit dem Employee Free Choice Act von 2009, verfolgten er und sein neuer Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, nicht – angeblich weil die Mehrheiten dafür nicht ausreichten. Viele fanden es später bemerkenswert, dass Biden sich als erster Präsident seit Franklin D. Roosevelt hinter streikende Arbeiter stellte. Aber Symbolpolitik ist wohlfeil. Nach seinem Amtsantritt hätte Biden beispielsweise mit Exekutivanordnungen voranschreiten können, etwa in der Auseinandersetzung um das Organizing von Amazon, dem mit 1,3 Millionen Beschäftigten zweitgrößten Arbeitgeber der USA nach Walmart. Möglich wäre die Anwendung der »Neutralitätsklausel« gewesen: Wer, wie Amazon, öffentliche Aufträge in Anspruch nehmen will, muss sich bei Organizing »neutral« verhalten und auf Union-Busting verzichten. Aber auch in diese Richtung ging Biden nicht. Das Konjunkturprogramm vermochte die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit nicht zu verschieben, zumindest nicht in einer Weise, die das Kapital auf die Barrikade getrieben hätte. Da vor allem die binnenwirtschaftlichen Kapitalien profitierten – etwa der Handel von Bidens Konjunkturpolitik –, schien die Spaltung von Kapitalfraktionen die Durchsetzung des Programms zu ermöglichen.
Bidens Scheitern
Bidens Reformpläne scheiterten trotzdem – indes nicht bloß aufgrund republikanischer Blockade. Im Senat standen sich 50 Republikaner und 50 Demokraten gegenüber. In einer solchen Pattsituation ist die Vizepräsidentin, in diesem Fall Kamala Harris, das Zünglein an der Waage. Aber nur eine abweichende Stimme konnte Bidenomics zu Fall bringen. Der Saboteur in den eigenen Reihen hieß Joe Manchin, ein fossiler (Kohle-)Kapitalunternehmer aus West Virginia.
Das Scheitern hatte sich angekündigt. Schon bei der ARP-Abstimmung vom März 2021 hatten acht rechte Demokraten zusammen mit den 50 republikanischen Senatoren gegen ein von Sanders eingebrachtes Gesetz für den 15-Dollar-Mindestlohn votiert. Zudem machte Bidens Regierung große strategische Fehler. Vor allem rächte sich, dass der Präsident hinsichtlich der Finanzierung des Reformprogramms auf die niedrige Inflation, ja deflationäre Tendenzen und entsprechend dauerhaft niedrige Zinsen vertraute und auf Deficit Spending setzte.
Während Franklin D. Roosevelt die Kapitalertragssteuern noch von elf Prozent (1931) auf 40 Prozent (1941) erhöht hatte und sie in der Ära des keynesianischen Wohlfahrtsstaatskapitalismus auf 52 Prozent stiegen, getraute sich Biden nicht einmal, die Trump’sche Kahlschlagpolitik rückgängig zu machen. Vorgesehen war nur die partielle Wiederanhebung der Kapitalbesteuerung auf 28 Prozent. Und während Roosevelt zur Finanzierung seines New Deal den Spitzensteuersatz von 24 Prozent (1931) auf 91 Prozent (1944) hochschraubte, sahen Bidens unrealisierte Pläne lediglich die Rückkehr zum Spitzensteuersatz von 39,6 Prozent von der Zeit vor Trump vor.
Der Fokus auf Schuldenfinanzierung rächte sich im Zuge der Inflation. Die Lieferkettenprobleme, die sich mit der Pandemie und dem Wirtschaftskrieg gegen China ergaben, wurden durch den Ukrainekrieg und die Sanktionen des Westens massiv verschärft und führten zu einer sprunghaften Teuerung: von 1,7 Prozent bei Bidens Amtsantritt im Februar 2021 auf über fünf Prozent im Mai und schließlich auf 8,5 Prozent nach Beginn des russischen Überfalls. Auch wenn dies offensichtlich die Folge von Angebotsverknappungen war – allein rund 70 Prozent der globalen Düngemittel und des Saatguts sowie etwa 25 Prozent der Getreideexporte stammen aus Russland, der Ukraine und Belarus –, wurde dies von Teilen der Bourgeoisie ideologisch und im neoliberalen Geist mit den Konjunkturprogrammen verknüpft und auf eine »künstlich« hohe Nachfrage zurückgeführt.
Die US-Notenbank versuchte, der Inflation durch Leitzinserhöhungen Herr zu werden. Seit März 2022 hat die Fed den Leitzins schrittweise erhöht, von effektiv null Prozent auf 5,5 Prozent – mit mäßigem Erfolg. Von ihrem Höhepunkt von 9,1 Prozent im Juni 2022 sank die Teuerungsrate lediglich auf 7,8 Prozent im Monat vor der Zwischenwahl. 2023 lag sie dann bei durchschnittlichen 4,1 Prozent, immer ausgehend vom höheren Sockel des Vorjahrs. Für 2024 rechnet man mit einer Durchschnittsinflation von immerhin noch drei Prozent.
Die Inflation brach Biden das Genick. Als sie im Sommer 2022 richtig durchschlug, fielen seine Zustimmungswerte erstmals ins Negative und verharren seither dort. Die Zwischenwahl ging verloren. Die Rochade zugunsten von Kamala Harris war so nötig wie verzweifelt. Ob sie Früchte tragen wird, wird sich zeigen.
Trumps Pläne
Lange sah es nach einem unausweichlichen Sieg von Trump aus. Klar ist, dass eine zweite Amtszeit von Trump noch radikaler ausfallen dürfte als die erste. Trumps »Agenda 47«, die wesentliche Elemente des »Project 2025« der Heritage Foundation enthält, von dem er sich heute distanziert, liefert einen Vorgeschmack. So plant Trump Massendeportationen »undokumentierter« Einwanderer. Im Grunde will er umsetzen, wovon die AfD bei ihrer »Wannseekonferenz 2.0« träumte: das »große Re-Migrationsprojekt« (Björn Höcke). In den USA leben, teilweise schon seit Jahrzehnten, mehr als zehn Millionen undokumentierte Einwanderer. Da es hier, anders als etwa in Deutschland, keine Ausweispflicht gibt, wäre ein solches Projekt nur durch extreme Razzien in Wohnvierteln, an Arbeitsplätzen usw. vorstellbar. Eine »Remigration« ist ohne Bürgerkrieg eigentlich nicht denkbar.
2016 gab es gegen Trumps Abschiebungspläne die »Sanctuary Cities«. Behörden weigerten sich, die Anordnungen der Bundesregierung auszuführen. Trump will deshalb das Gewaltmonopol des Staates zentralisieren und die Befugnisse der Nationalgarde ausweiten. Die Reichweite der zentralen Repressionsapparate soll sich auch auf die ihm feindlich gesinnten liberalen Staaten der Ost- und Westküste erstrecken. Wo liberale Gesetzgeber in den Einzelstaaten und ihre Polizeipräsidenten der nationalen Politik keine Folge leisten, will Trump von oben durchregieren. Seine Pläne zur Stärkung der Exekutivgewalt, die Ankündigung, durch Exekutivanordungen regieren zu wollen, und die Ankündigung von Säuberungen der ständigen Bürokratie sind erheblich.
»Ganz gleich, ob Trump oder Harris gewinnt: Die Linke ist erheblich geschwächt. Dadurch wird sie auch – anders als 2020, als sie auf ihrem Höhepunkt war – kaum Druck auf Harris ausüben können. Gerade das könnte wiederum Harris’ Wahlchancen mindern, wenn sie einen zentristischen Kurs wie einst Hillary Clinton verfolgt.«
In der Wirtschaftspolitik versucht er die Quadratur des Kreises. Der Sieg des US-Kapitals über die Arbeiterbewegung hat die Globalisierung und Privathaushaltsverschuldung zu den Mitteln gemacht, mit denen der Lebensstandard der Arbeiterklasse halbwegs aufrechterhalten wurde. Der von Trump geplante Protektionismus in Bezug auf Alltagsgüter, die aus dem Ausland importiert werden, wird die Lage der Arbeiterklasse darum noch erheblich verschlechtern, weil er im Grunde alle Importwaren verteuert. Die Vorstellung, etwa die Textilindustrie könne aus Südostasien oder die Mikrotechnologieindustrie aus Fernost zurückkehren, ist eine gefährliche Illusion. Finanzministerin Janet Yellen hat daher Recht, wenn sie sagt, dass Trumps »Zölle auf chinesische Waren den US-Konsumenten und Unternehmen Schaden angerichtet« hätten. Zugleich ist die Biden-Regierung selbst Träger dieser Verarmungspolitik, denn sie weitete Trumps Wirtschaftskrieg mit Schutzzöllen auf chinesische E-Autos und Solaranlagen, die von 25 Prozent auf 100 Prozent gesteigert wurden, massiv aus und brachte so auch Klimapolitik und soziale Gerechtigkeit in einen Gegensatz.
In einer weiteren Amtszeit würde Trump fiskalpolitisch wohl erneut auf massive Steuersenkungen für Kapital und Superreiche sowie erneute Deregulierungen für fossile Kapitalien setzen. Darüber hinaus plant er die Gründung von sogenannten Freiheitsstädten auf bundeseigenen Liegenschaften. Trump greift damit die feuchten Träume aus Ayn Rands Roman Atlas Shrugged, der den Auszug der Kapitalbesitzer (»Leistungsträger«) aus der Gesellschaft schildert, auf: In einem wahren marktradikalen 19.-Jahrhundert-Paradies ganz ohne Gewerkschaften, Arbeitsschutzmaßnahmen, Normalarbeitstag usw. soll der Markt seine wundersame Kraft entfalten und die Utopie einer Industrie für »fliegende Autos« verwirklichen.
Schwache US-Linke
Ganz gleich, ob Trump oder Harris gewinnt: Die Linke ist erheblich geschwächt. Dadurch wird sie auch – anders als 2020, als sie auf ihrem Höhepunkt war – kaum Druck auf Harris ausüben können. Gerade das könnte wiederum Harris’ Wahlchancen mindern, wenn sie einen zentristischen Kurs wie einst Hillary Clinton verfolgt. Die Black-Lives-Matter-Bewegung wurde vom Parteiapparat regelrecht absorbiert, wie Margit Mayer in ihrem Buch Die US-Linke und die Demokratische Partei (Bertz + Fischer, 2022) beschrieben hat. Sanders und auch »The Squad« haben sich außenpolitisch im Ukrainekrieg und großteils auch im Gazakrieg hinter Biden gestellt, um ihre innenpolitische Sozialagenda durchsetzen zu können. Das hat sie jedoch von ihrer linken Basis, insbesondere den Democratic Socialists of America (DSA), abgekoppelt. Innerhalb der DSA hatte es langewährende Richtungsauseinandersetzungen gegeben; Eric Blanc differenzierte die bestimmenden Flügel nach drei inhaltlichen Ausrichtungen: in jene Kräfte, die auf ein »alignment« – also eine sozialistische Organisation in der Demokratischen Partei – setzten, eine weitere Strömung, die sich an einem »clean break« – die Schaffung einer klassenbasierten Partei jenseits von ihr – orientierte, und zuletzt in eine Fraktion, die einen »dirty break« – kurz: die Nutzung der Demokraten als Plattform zum Aufbau eines starken klassenbasierten Flügels, der sich dann im richtigen Moment abspaltet – favorisierte. Heute ist vom »dirty break« kaum noch etwas übrig, das »alignment« Fakt und die Enttäuschung groß.
Die Konfrontation mit China, die schon von der George-W.-Bush-Regierung begonnen, von Obama systematisiert und von Biden in den Wirtschaftskrieg überführt wurde, wird auch darum unter beiden Kandidaten fortgesetzt werden. Die Biden-Regierung hat Trumps Wirtschaftskrieg wie gesagt noch forciert und mit der von Obama entwickelten Politik der militärischen Umzingelung verknüpft. Dazu gehört die geplante Errichtung eines US-Militärhauptquartiers in Japan und ganz allgemein die erhebliche Aufrüstung der Region. Dabei brechen die USA auch zunehmend mit ihrer Ein-China-Politik. Drei Schritte markieren einen qualitativen Umschlag: erstens Nancy Pelosis Besuch in Taipeh; zweitens die von Biden salamitaktisch immer wieder vorgebrachte und dann zurückgezogene Erklärung, man werde – anders als im Fall der Ukraine – Taiwan im Kriegsfall nicht nur mit Waffen und Geld verteidigen, sondern auch mit eigenen Truppen unterstützen; und drittens schließlich die direkte Finanzierung der Aufrüstung Taiwans nicht über den Weg der Kreditfinanzierung, sondern über die U.S. Foreign Military Finance, die den US-Steuerzahler direkt für die Aufrüstung zahlen lässt und die auch für die Waffenlieferungen an den ukrainischen Staat genutzt wird.
Ob die Linke in den USA in der Lage sein wird, sich aus der außenpolitischen Kooptation zu lösen und eine eigenständige Position zu entwickeln, die den Zusammenhang zwischen ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Agenda und der Verhinderung einer Konfrontation und eines möglichen Krieges gegen China erkennt und vermittelt, ist vor dem 5. November und unabhängig vom Ausgang des Rennens zwischen Donald Trump und Kamala Harris fraglicher denn je.
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