Postanarchistische Plädoyers

von Andreas Pavlic

499 wörter
~2 minuten
Postanarchistische Plädoyers
Oskar Lubin
Postanarchismus
Glossen mit Fußnoten
Edition Assemblage, 2024, 192 Seiten
EUR 17,30 (AT), EUR 16,80 (DE), CHF 25,90 (CH)

Denken ist pointiertes Plaudern über einen Begriff. Dieses Motto könnte sich Oskar Lubin gegeben haben, als er sich in den Jahren 2018 bis 2023 daransetzte, für die anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution postanarchistische Glossen zu verfassen. Nun sind sie gesammelt in einem Buch erschienen.

Lubin präsentiert sich dabei als geübter Denksportler. Einer, der das politisch-theoretische Spiel, um bei der Analogie zu bleiben, nicht nur von außen beobachtet, sondern auch mitspielt. Dabei geht es ihm nicht nur darum, die anarchistische Theoriebildung voranzutreiben, sondern neuere libertäre Ansätze in breitere und vor allem aktuelle Auseinandersetzungen einfließen zu lassen.

Dass der Postanarchismus dafür geeignet ist, darüber werden die Leser:innen gleich zu Beginn ganz unbescheiden in Kenntnis gesetzt: »Das Großartige am Anarchismus ist, dass er die Forderung nach individueller Freiheit und das politische Ziel der sozialen Gleichheit miteinander verbindet und aneinander koppelt.« Doch gibt es ein Problem, worauf das Präfix »Post« verweist: Der Anarchismus hat einen ähnlich langen Bart wie der Kommunismus oder die Sozialdemokratie. Postanarchismus ist der Versuch, diese alte Theorie und Praxis mit mittlerweile ebenfalls nicht mehr ganz neuen Theorien wie dem Poststrukturalismus, aber auch mit postkolonialen und queeren Ansätzen zu erneuern und sie vom 19. direkt ins 21. Jahrhundert zu katapultieren.

Dabei werden verschiedene Annahmen des klassischen Anarchismus behutsam zurückgelassen. Lubin nennt in diesem Zusammenhang »Naturalisierung, Fortschrittsoptimismus und die vermeintlichen Revolutionsdispositionen«. Ein Beispiel: In der Glosse »Klassen« begeben wir uns in die späten 1980er-Jahre. »Wir hatten zwar einen Heidenrespekt vor den noch lebendigen Klassenkämpferinnen und Kämpfern aus der Spanischen Revolution, die sich nach wie vor bruchlos positiv auf das Proletariat bezogen, aus dem sie kamen. Aber mit der Realität der Arbeiter:innen, die wir kannten, hatte das nichts zu tun. Mit ihren Schnauzbärten und Vorgärten, beide gepflegt, gehörten sie zum System wie das Herrengedeck in der Eckkneipe.«

Ausgehend von dieser Anekdote zeichnet Lubin die Spaltung nach, die sich damals für ihn zeigte. »Wir dachten da bloß in Industriegesellschaftskategorien. Die migrantische Putzhilfe, den Call-Center-Angestellten, all die Inhaber:innen kurzzeitiger und prekärer Jobs hatten wir nicht im Blick. Klassen sind Bestandteile von Herrschaftsverhältnisse und sie zeigen sich in der Ausbeutung, den Diskriminierungen und in den subtileren Spielarten von Konsum, Gesten und Geschmack.« Die Konklusion dieser Glosse liegt im Sowohl-als-auch: »Der Kampf gegen die Diskriminierung schließt den Kampf gegen die Ausbeutung keinesfalls aus, er ergänzt ihn.«

Weitere Begriffe, die sprachlich locker und unterhaltsam, aber theoretisch fundiert umrissen werden, sind Dekolonialisierung, Neue Linke, Pop, Zeichen, Institutionen, Gender, Erinnern, Kommunismus, Kunst, Stadt, Hegemonie, Wert und andere mehr. Die Glossen führen zeitgeschichtlich in die 1980er- und 1990er-Jahre, wodurch der Autor seine politische Sozialisation und Generationszugehörigkeit erzählt. Und sie sind in vielem ein Plädoyer sowohl für Ambiguitätstoleranz als auch dafür, individuelle und kollektive Handlungsmacht angesichts konkreter Strukturbedingungen nicht zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen. Oskar Lubins Glossen sind als Vademecum für den politischen Alltag zu betrachten.

0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop