Armut durch Kinderaugen
von Sebastian Schmidt

EUR 24,95 (AT), EUR 24,00 (DE), CHF 35,90 (CH)
Einen Roman aus der Sicht eines Kindes zu schreiben, der durchgängig in einer glaubwürdigen Geschlossenheit erzählt, gelingt vielen Autor:innen nicht. Einen Text zu schreiben, der ein Leben in Armut in seinen verschiedensten Auswüchsen durchdekliniert, ohne dabei im Duktus einer Gebetsmühle zu erklingen, ist äußerst schwierig. Die Autorin Annemarie Andre schafft in ihrem Romandebüt Nacktschnecken genau dies beides auf bemerkenswerte Weise.
Ihre Familienschau spielt in einem mittelgroßen Ort in einem österreichischen Tal. Die zehnjährige Charlotte Leitner wohnt mit ihrer Mutter, ihrem älteren Bruder Marcel und ihrer Schwester Anja gegenüber dem örtlichen Friedhof. Doch nicht nur deshalb ist der Tod etwas, was die Familie schicksalssicher begleitet, denn immer wieder schlittern ihre Mitglieder nur knapp am Grab vorbei. So erleidet Anja bereits vor der erzählten Gegenwart schwere Verbrennungen durch einen Stromschlag. Im späteren Verlauf findet Charlotte ihre Mutter im Bad mit einer Gehirnblutung vor. Die Ärzt:innen operieren sie am Kopf und diagnostizieren eine Epilepsie. Wenn Charlotte Prinzessinnen malt, dann haben sie Narben an den Gliedern. Aber das alles sind nur sichtbare Merkmale, die wir nach unserem Dafürhalten konsequent und nickend in eine Schublade einlegen, die wir zuvor mit dem Wort »Armut« beschriftet haben.
Hauptgegenstand des Romans ist der Überlebenskampf der Familie, sind die mütterlichen Strategien und Maximen als Praxis der sozialen Gegenwehr, mit denen sich Charlotte konfrontiert sieht, die sie gleichzeitig aber auch demütigen und kleinhalten (»Sie sind halt nicht unsereins. Geld geht immer dahin, wo schon Geld ist«).
Nacktschnecken haben kein Haus, in das sie bei Gefahr fliehen können, und Familie Leitner, die sich selbst »Familie Billigdörfer« nennt, ist der Gefahr von schlechter Nachrede, Alkoholismus und Müdigkeit vor allem ebendort ausgesetzt: zu Hause. Wunder Punkt ist vor allem der alkoholkranke Manfred, der neue Partner der Mutter, der sich im Vollrausch per untilgbarem Kotfleck am Sofa in das Leben der Familie scheißt, eines Tages zusammenbricht und schwer blutend ebenfalls ins Krankenhaus gebracht wird.
Nur Charlotte bleibt unversehrt. Dabei ist sie es, die von allem am meisten abbekommt: Neben dem Fehlen des Vaters, dem Streit mit ihrem Bruder, der bald ausziehen wird, sowie den ständigen Hänseleien ihrer Klassenkameraden zwingen sie die Religiosität ihrer Mutter (»Wegen Gott hatte ich Angst, Mama anzulügen«) und eine strenge Gendernormativität (»Eine feine Dame flucht nicht«) immer wieder zum Schweigen.
Und während das soziale Konstrukt der Klasse mit brachialer Wucht in der Kinderwelt Charlottes wütet, werden wir unter jedem ihrer Aufstehübungen kleiner und kleiner, sind aber seltsam dankbar für die unermüdlichen Gehversuche, für die weicheren, kindlichen Augen, durch die uns dieses schwere Leben erzählt wird.
Schließlich, wem das Sujet aus einem anderen, in der Literaturwelt stark emporgehobenen Roman bekannt vorkommen mag, nämlich Caroline Wahls 22 Bahnen, dem sei gesagt: Dies hier ist das aufrichtigere, das weitaus gelungenere, weil ganz unmittelbar erzählte Buch.
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