Geisterstunde
von Sebastian Kugler

Ein hauntologischer Essay gegen die Arbeit, die Familie und die Herrschaft der Zeit
EUR 15,00 (AT), EUR 14,00 (DE), CHF 19,90 (CH)
Als vor etwas mehr als 30 Jahren der stalinistische Ostblock implodierte und den in seiner Geiselhaft befindlichen Marxismus unter seinen Ruinen zu begraben drohte, rückte Jacques Derrida zur Verteidigung von Marx aus. In Marx’ Gespenster wetterte er gegen das von Francis Fukuyama verkündete Ende der Geschichte und sprach von Marx und dem Marxismus als »unzeitgemäßen Gespenstern, die man nicht verjagen sollte, sondern sortieren, kritisieren, bei sich behalten und wieder kommen lassen«. Derridas kreativer Re-Lektüre von Marx entspringt dabei das Konzept der »Ha(u)ntologie« – jede Lehre vom Sein (Ontologie) sei mit Verweis auf das von ihr Verdrängte und Ausgeschlossene, von dem sie notwendigerweise immer wieder heimgesucht wird, zu subvertieren. Rezipiert wurde Derridas Hauntologie auch in den Schriften des Kulturtheoretikers Mark Fisher (1968–2017) zu Kino und Musik, die den Anstoß für das vorliegende Buch von Simon Nagy liefern. Fishers Diagnose des Capitalist Realism zufolge hat Fukuyama auf der kulturellen Ebene gesiegt. In diesem Wegfall der Zukunft spuken »Marks Gespenster« (Nagy) als spektrale Verkörperungen von »no longer« einlösbaren vergangenen Zukünften einerseits und als »not yet« realisierbare Utopien andererseits in Texten, Filmen und Songs.
Nagys intensiver Fisher-Lektüre ist es zu verdanken, dass er nicht bei dessen letztlich oberflächlicher Derrida-Lektüre stehen bleibt, sondern den Anstoß zu einer »dialektischen Hauntologie« gibt. Sie interessiert sich, so Nagy, für die Momente, in denen sich die beiden Wirkrichtungen des »no longer« und des »not yet« verschränken – Momente, »in denen vergangene und zukünftige Gespenster miteinander ins Gespräch treten«. Gerahmt wird dieses Vorhaben von einem Dreisprung, der bei der Kritik der linearisierten Zeit, wie sie der Kapitalismus hervorgebracht hat, einsetzt – nicht umsonst bestimmt schon Derrida Gespenster als »temporale Disjunktion«. Dies führt Nagy (mit Moshe Postone) zur Kritik der Arbeit im Rahmen der kapitalistischen »Ökonomie der Zeit« – die nach Marx in der linearisierten gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit das Größenmaß ihrer (Mehr-)Wertproduktion hat.
Das hauntologische Andere der solcherart abstrakt gewordenen Arbeit erkennt Nagy (mit Silvia Federici) in der reproduktiven häuslichen Arbeit, welche im Kapitalismus systematisch ausgeblendet und auch bei Marx nur spärlich beleuchtet wird. Damit ist die Brücke zur Kritik der Familie geschlagen, deren Abschaffung auf diese Weise mit der Abschaffung von Arbeit und Zeit vermittelt wird. So weist Zeit abschaffen in seinem methodischen Zugang über Fishers Hauntologie hinaus und lässt in seinem unverblümten Radikalismus Derridas bestenfalls reformistisch zu nennendes Zehn-Punkte-Programm in Marx’ Gespenster alt aussehen.
Was hier unheimlich theorielastig klingt, liest sich in Nagys Essay herrlich unprätentiös und nachvollziehbar. In vielen kurzen und leichtfüßigen Beobachtungen an (pop-)kulturellen Phänomenen von Videospielen wie Super Smash Bros. über Filme wie Bong Joon-hos Parasite bis zu Romanen wie Hari Kunzrus White Tears präsentiert Nagy Teaser einer dialektischen Hauntologie, die im Überlagern von »no longer« und »not yet« den Spuk als revolutionäres Versprechen erkennt. Dass man die Analysen gerne etwas mehr ausgeführt gesehen hätte, spricht nicht gegen das Buch, sondern für sein anregendes Potenzial.
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