Das Licht der Glühwürmchen
von Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert wird die Soziologin, Schriftstellerin und Aktivistin Pınar Selek vom türkischen Staat verfolgt. Am 25. April 2025 findet in Istanbul erneut ein Prozess gegen sie statt.
Nach zwei Jahren Haft für ein Vergehen, das sie nicht begangen hat, nach psychischer und physischer Folter wurde Pınar Selek bislang viermal freigesprochen. Trotz stichhaltiger Beweise für ihre Unschuld wird ihr Fall unablässig neu aufgerollt. Der letzte Freispruch wurde 2022 aufgehoben, seitdem werden immer wieder neue Verhandlungstermine veranschlagt. Bis heute wurden alle vertagt. Am 7. Februar 2025, jenem Tag, an dem erneut der Prozess gegen sie erneut hätte stattfinden sollen, hält Pınar Selek an der Universität von Nizza, wo sie im Exil lebt, eine Rede. Sie adressiert darin Kolleg:innen, Weggefährt:innen, Unterstützer:innen und Journalist:innen:
»Wir wissen, dass die Faschisierung kein Randphänomen ist. Sie breitet sich aus und wird mit erschreckender Geschwindigkeit banalisiert. (…) Überall auf der Welt versuchen autoritäre Regime, (…) den Geist zu kontrollieren, intellektuelles Denken zu unterdrücken und kritische Stimmen mundtot zu machen. (…) Vielleicht gewinnen sie. Aber was heißt schon gewinnen? Wir sind hier, gemeinsam. Und durch unsere Anwesenheit bekräftigen wir, dass, indem wir die akademischen Freiheiten verteidigen, unser Engagement in die Geschichte eingeschrieben wird. Und das wird das Licht der Glühwürmchen nähren, die weiterhin die Dunkelheit erhellen.«
Drei »Glühwürmchen« nennt Selek beim Namen: Charlotte Salomon, eine jüdische Künstlerin, die vor den Nationalsozialisten nach Südfrankreich geflohen war und 1943 in Auschwitz ermordet wurde; Verisheh Moradi und Pakhshan Azizi, zwei kurdische Feministinnen, die im Iran mit der Todesstrafe bedroht werden. Trotz aller historischen und gegenwärtigen Versuche, die Menschen, die sich Repression und Vernichtung widersetzen, zum Schweigen zu bringen und aus der Geschichtsschreibung zu löschen, sind die »Glühwürmchen« nicht verschwunden. Dabei bezieht sich Selek auf einen Text des Filmemachers und Dichters Pier Paolo Pasolini: 1975 veröffentlichte er einen Essay, in dem er den Übergang vom »faschistischen Faschismus«, der in der Tradition Mussolinis von den italienischen Christdemokraten fortgeführt wurde, zu einem »radikalen, totalen und unvorhersehbaren neuen Faschismus« als Periode des »Verschwindens der Glühwürmchen« bezeichnete. Gleichzeitig mit dem biologischen »Verschwinden der Glühwürmchen«, das Anfang der 1960er-Jahre aufgrund zunehmender Verschmutzung von Luft und Gewässern einsetzte, begann »etwas«, das sich in Pasolinis Augen als eben dieser »neue Faschismus« abzeichnete.
Wie genau dieser aussehen würde, darüber verliert er nicht viele Worte. Er präzisiert nur, dass es sich um eine globale, über die jeweiligen nationalen Regierungen hinauswachsende Form des Faschismus handele, der sich, von Konsumgesellschaften geprägt, auf »transnationale Armeen« stützen und »nicht bloß totalitär«, sondern »gewaltsam totalisierend« sein werde. Damit prognostiziert er Entwicklungen, deren verheerende Auswüchse wir heute weltweit erkennen. Während Pınar Selek daran festhält, dass es immer noch Glühwürmchen gibt, »die weiterhin die Dunkelheit erhellen«, ist für Pasolini das »Verschwinden der Glühwürmchen« absolut. Er wird keine Zeit mehr haben, sich vom Gegenteil zu überzeugen: Neun Monate nachdem er den Glühwürmchen-Text veröffentlicht hat, wird er von einem jungen Mann unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet. Pınar Selek überlebt Folter, Gefängnis und Verfolgung; sie verliert Weggefährten, die ebenfalls unter dubiosen Umständen von jungen Männern ermordet werden.
Wer ist Pınar Selek, wodurch hat sie sich den anhaltenden Zorn des türkischen Staats auf sich gezogen, und wie gelingt es ihr, weiterhin gegen das »Verschwinden der Glühwürmchen« anzukämpfen?
Die Suche nach etwas Magischem
In dem 2023 auf Deutsch veröffentlichten Gesprächsband Die Unverschämte erzählt Pınar Selek von ihrem Aufwachsen in Istanbul während der 1970er-Jahre. Sie kommt aus einer prononciert linken, gleichwohl bürgerlichen Familie. Ihre mittlerweile verstorbene Mutter war Apothekerin, ihr Vater ist bis heute als Rechtsanwalt tätig und war damals in der kommunistischen Bewegung aktiv. Ihr Großvater war Nationalratsabgeordneter und Mitbegründer der Türkischen Arbeiterpartei (TIP). Sie wuchs gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester auf, die von Kindheit an eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte. In Die Unverschämte schildert sie auch die nächtliche Verhaftung ihres Vaters, die im Zuge des Militärputschs 1980 stattfand, oder wie sie mit ihrer Schwester im Zimmer lag und sie einander märchenhafte Abenteuergeschichten erzählten. Sie wollte zwar keine Fee sein, aber stets ein verzaubertes Leben führen. »Dieser Wunsch«, so Selek, »hat mein Leben bestimmt, meine Liebesbeziehungen, meine Freundschaften und mein politisches Engagement. Ich suche immer nach etwas Magischem.«
Als Teenager Mitte der 1980er-Jahre erlebte sie den Aufbruch in der Türkei hautnah und war hin- und hergerissen zwischen Lyrik, Heavy Metal und Revolution. Allerorts gab es Proteste gegen das Militärregime und Streiks, feministische, antimilitaristische sowie libertäre Gruppen entstanden, Bücher abseits des marxistischen Kanons wurden gelesen, neue Perspektiven eröffneten sich und förderten Diskussionen, die auch zur Kritik an den Repräsentanten der traditionellen Arbeiterbewegung führten. Eine zufällige Begegnung ließ Selek jedoch in eine ganz ungewöhnliche Richtung gehen. Sie lernte nahe dem Taksim-Platz Straßenkinder kennen und freundete sich mit ihnen an. Das war 1986, da war sie 16 Jahre alt. Im Laufe der Zeit entstand eine Verbindung, die, obwohl sie für ein paar Jahre nach Ankara gehen sollte, um Soziologie zu studieren, über viele Jahre wachsen und weitere Kreise ziehen sollte.
Auf Reisen lernte Selek Anfang der 1990er-Jahre die Hausbesetzerszene in Paris und Berlin kennen, später erfuhr sie von der zapatistischen Bewegung in Mexiko. Dies alles weckte in ihr den Wunsch, Ähnliches in Istanbul zu versuchen. Zunächst besetzte sie mit Straßenkindern ein Haus und initiierte mit Künstler:innen Workshops. Daraus entwickelte sich die »Werkstatt der Straßenkünstler:innen«, in der sich obdachlose Personen, Sinti:zze und Rom:nja, Sexarbeiter:innen, transsexuelle Personen, Student:innen und natürlich auch Straßenkinder trafen. Trotz Angriffen von Anhängern der rechtsextremen Grauen Wölfe und Protesten aus konservativen Kreisen konnte die Werkstatt bestehen. Die Bekanntschaft mit Sexarbeiter:innen führte zu gemeinsamen Organisierungsversuchen und einer soziologischen Studie über Sexarbeit.
Zur gleichen Zeit begann sich die transsexuelle Szene zu organisieren, die heftigen Repressionen ausgesetzt war. Selek schrieb über sie ihre Masterarbeit. Daraus entstand das erste Buch über Trans-Personen in der Türkei überhaupt. Ein Leitgedanke ihre Forschungsarbeit war und ist es, sich selbst ständig zu befragen, für wen sie dieses Wissen eigentlich produziere: Waren die Personen, die als soziale Akteur:innen in den Studien befragt wurden, epistemischer Gewalt ausgesetzt? Wurde ihnen, die ohnehin schon marginalisiert waren, also weitere Gewalt angetan, indem man ihnen herrschaftlich-wissenschaftliche Sprechweisen aufzwang und die Expertise über ihre eigenen Lebensformen absprach? Und: Brachte sie eine Veröffentlichung möglicherweise in Gefahr? Ihre Weigerung, Namen von Interviewpartner:innen preiszugeben, wird Pınar Selek später selbst ins Gefängnis bringen.
Verhaftung, Folter und Exil
Der Erfolg der Werkstatt der Straßenkünstler:innen war, dass diese zu einem kreativen, politischen und heterogenen Ort wurde, an dem auf undogmatische Weise über alle ethnischen, sozialen und geografischen Zugehörigkeiten hinweg gemeinsam politische und künstlerische Arbeit stattfinden konnte: ein Raum für Glühwürmchen, die nicht isoliert in einem selbst geschaffenen Reservat lebten, sondern ausflogen, um trotz aller Einschüchterungsversuche ihr Licht mit der Stadt und ihren Menschen zu teilen. Angesichts der Erfahrungen, die Selek in diesem Zusammenhang mit der Gewalt seitens des türkischen Staates bzw. faschistischer Gruppierungen wie den Grauen Wölfen machte, begann sie sich mit jenem latenten Kriegszustand zu beschäftigen, in dem sich die Regierung seit Jahrzehnten befand. Dieser Krieg gegen kurdische Autonomiebestrebungen loderte immer wieder auf, seine Notwendigkeit wurde ständig propagiert, wodurch eine permanente Militarisierung der gesamten Gesellschaft gerechtfertigt wurde.
Pınar Selek kritisierte dies heftig und auf allen Ebenen. So beschäftigte sie sich auch mit der sukzessiven Militarisierung des Widerstandes gegen die staatliche Repression. In einer Studie ging sie den Beweggründen von Kurd:innen nach, sich der Freiheitsbewegung anzuschließen und zu den Waffen zu greifen. Über zwei Jahre führte sie Gespräche mit Kämpfer:innen der PKK, der in der Türkei verbotenen kurdischen Arbeiterpartei, die erst vor wenigen Wochen einen Waffenstillstand ausgerufen hat. In dieser Zeit wurde sie eines Tages von der Polizei abgeholt und verhört. Sie sollte die Namen und Aufenthaltsorte ihrer Gesprächspartner:innen preisgeben. Pınar Selek verweigerte jede Kooperation mit den Behörden. Sie wurde inhaftiert und gefoltert.
Im Gefängnis erfuhr sie, dass sie wegen eines vermeintlichen Bombenanschlags angeklagt werden sollte. Sieben Tage vor ihrer Verhaftung war eine defekte Gasflasche am Istanbuler Gewürzmarkt explodiert. Ein junger Mann, der sie unter Folter als Drahtzieherin eines Terroranschlags denunziert hatte, widerrief kurze Zeit später; mehrere Gutachten belegten zweifelsfrei, dass es sich um einen Unfall handelte. Trotzdem blieb sie zwei Jahre lang in Haft.
Auch nach ihrer Freilassung wurde der Prozess immer wieder neu aufgerollt. Politisch aktiv blieb sie dennoch, agierte in verschiedenen Zusammenhängen und Projekten. So gründete sie gemeinsam mit anderen Frauen die Gruppe Amargi (Dt. Freiheit), sie organisierten Proteste und Friedensmärsche in verschiedenen Städten der Türkei, gaben eine gleichnamige Zeitschrift heraus und eröffneten einen sozialen Treffpunkt in Istanbul. 2009, nach dem zweiten Freispruch, entzog sich Selek auf Anraten ihres Vaters und Anwalts einer präventiven Verhaftung durch Flucht. Zu diesem Zeitpunkt war sie 38 Jahre alt. Seitdem lebt sie im Exil. Zunächst ging sie nach Deutschland, wo ihr ein Writers-in-Exile-Stipendium des PEN-Clubs ein erstes Ankommen ermöglichte. Mittlerweile ist sie französische Staatsbürgerin, lebt in Nizza und lehrt dort Soziologie an der Université Côte d’Azur. In Frankreich ist sie weiterhin in verschiedenen feministischen und antimilitaristischen Zusammenhängen aktiv.
Wie aus einem Kind ein Mörder wird
In ihrer politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit legt Pınar Selek seit Jahrzehnten ihr Augenmerk auf jene Bereiche, die zu den Grundfesten des türkischen »nation building« gehören: Sie untersucht die gesellschaftlichen Auswirkungen der Leugnung des Genozids an den Armenier:innen, befragt die Mechanismen des permanenten Krieges gegen die kurdische Bewegung und zeigt die verheerenden Auswüchse eines nationalen Selbstverständnisses auf, das auf der behaupteten Notwendigkeit von militarisierter patriarchaler Gewalt beruht. Ihre feministische Haltung verschränkt antimilitaristische, antirassistische, ökologische und antikapitalistische Positionen: »Innerhalb der Armagi-Redaktion haben wir das den ›akrobatischen Feminismus‹ genannt. Um gegen die Krake der Herrschaft mit ihren zahlreichen Tentakeln zu kämpfen, muss man wirklich eine kreative Akrobatik aufbieten«, erzählt sie Die Unverschämte.
Eine Priorisierung von Kämpfen nach scheinbarer Dringlichkeit lässt sie ebenso wenig gelten wie Polarisierungen entlang bestimmter Zugehörigkeiten. Ihre auf Deutsch unter dem Titel Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt erschienene Studie über »männliche Identitäten« begann Pınar Selek nach der Ermordung eines Freundes und Weggefährten: Hrant Dink, armenischer Aktivist und Herausgeber der Zeitschrift Agos, wurde 2007 von einem jungen Mann unter ungeklärten Umständen ermordet. »Wie aus einem Kind ein Mörder wird« war eine der Leitfragen, von der Pınar Selek ausging, um eine der prägendsten Etappen auf dem Weg zu einer anerkannten Männlichkeit zu beschreiben.
In den Gesprächen über ihre Wehrdienstzeit beim türkischen Militär kommen fünfzig Männer unterschiedlicher sozialer, geografischer und ethnischer Herkunft sowie verschiedener politischer Gesinnung immer wieder darauf zu sprechen, wie unvermeidlich die Ausübung von Gewalt sei, um Ordnung herzustellen, Anstand und Disziplin zu wahren. Die Gewalt, die diesen Männern widerfahren ist bzw. die sie selbst ausgeübt haben, prägt und zeichnet sie für ein Leben, das sie teils als selbstbewusste, teils als halbherzige oder gar verzweifelte, jedenfalls aber als beglaubigte Inhaber eines »toxischen Mandats der Männlichkeit« (Rita Segato) verbringen werden.
Pınar Selek, die »Unverschämte«, wie Hrant Dink sie liebevoll nannte, kämpft weiter. Dass es beim nächsten Prozesstermin am 25. April zu einem Freispruch kommen wird, ist nicht wahrscheinlich – auch in Anbetracht der Verhaftungswelle, die Mitte Februar von der Staatsanwaltschaft in Istanbul angekündigt wurde. 60 Personen, darunter zwei Journalisten, die Seleks Prozesse begleiten und sich für die Rechte queerer Communitys einsetzen, wird vorgeworfen, »terroristische Verbindungen« eingegangen zu sein. Sich mit vereinten Kräften gegen jene Verdunkelungen zu stemmen, die das Licht der Glühwürmchen auszulöschen drohen, ist Solidarität mit Pınar Selek, mit ihren historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Gefährt:innen.
Eine davon ist die iranische Aktivistin Narges Mohammadi, die zu 31 Jahren Haft verurteilt wurde. Im Februar 2025 beschwört sie in einer Solidaritätserklärung für Selek die internationalen Unterstützer:innen, nicht damit aufzuhören, für »Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte zu kämpfen, bis Gleichberechtigung Wirklichkeit ist. Unsere Hände sind vereint, und diese Solidarität stärkt unsere Macht auf der ganzen Welt.« Und der beste Weg, dem Verschwinden der Glühwürmchen vorzubeugen, ist selbst eins zu werden.
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