Rinde der Gewaltgeschichte

von Simon Nagy

484 wörter
~2 minuten
Rinde der Gewaltgeschichte
Enis Maci und Pascal Richmann
Pando
Suhrkamp, 2024, 207 Seiten
EUR 24,70 (AT), EUR 24,00 (DE), CHF 33,50 (CH)

Kurze Abschnitte, manchmal ein paar Seiten, manchmal nur einen Absatz lang, skizzieren blitzlichthaft disparate historische Ereignisse. Auf den ersten Blick haben sie wenig miteinander zu tun: Sie reichen von Hernán Cortés’ gewaltvollem Feldzug in Tenochtitlán 1519 bis zum Ausverkauf von digitalem Gemeingut im gegenwärtigen Silicon Valley; vom Mord der Menschen an den Neandertalern vor 40.000 Jahren bis zum Schmelzen der Startbahnen am Londoner Flughafen Luton 2022; von Albrecht Dürers prägender Besichtigung geraubter aztekischer Kunst in Amsterdam bis zum Kampf der Fotografin Nan Goldin gegen die Pharmadynastie Sackler.

Gerahmt ist diese transhistorisch breit aufgefächerte Erzählung durch die Liebesgeschichte zwischen Reja und Hans. Gemeinsam mit ihren Freund:innen Jean und Alice machen sie das zentrale Register an wiederkehrenden Figuren aus. Die vier werden zu Protagonist:innen nicht durch besonders geschichtsträchtiges Handeln, sondern schlicht dadurch, dass sie als junge Menschen an einer Welt teilhaben, die sowohl durch Jahrhunderte kolonialer Ausbeutung als auch durch neoliberale Faschisierungsprozesse aufs Allergröbste durchgerüttelt wurde und wird, und dass sich durch ihre Augen verschiedene Momente des Rüttelns beobachten lassen.

Pando stellt diese geografisch wie zeitlich weit verteilten, teils kanonisch-historiografischen, teils mikroskopisch-persönlichen Ereignisse durch eine Art assoziativer Poetik zueinander in verblüffende Beziehungen: Geradezu beiläufig, manchmal nur durch eins der benutzten Wörter oder durch den Namen einer Nebenfigur geht die Schilderung eines Ereignisses in die nächste über. Auf diese Weise gelingt es Enis Maci und Pascal Richmann, dass ihr Buch sich weder zu einer Gleichsetzung verstreuter Ereignisse noch zum Versuch einer umfassenden Welterklärung anschickt. Vielmehr unternimmt es eine Vermessung dessen, wie Sprache den unvergleichbaren Ereignissen, aus denen sich unsere Geschichte zusammensetzt, zu Leibe rücken und dabei dem Anspruch treu bleiben kann, schillernde Konstellationen auch auf der Satzebene zu konstruieren.

Der Titel des Romans ist Metapher dieser erzählerischen Methode wie ihres inhaltlichen Anspruchs gleichermaßen. Pando ist das größte Lebewesen der Welt, ein Wald aus knapp 50.000 Zitterpappeln in Utah, deren Wurzeln alle miteinander verbunden sind und die somit alle dasselbe Genmaterial teilen. Der erste Baum von Pando, längst schon abgestorben, wuchs zum Ende der Eiszeit; heute schlagen Forscher:innen Alarm, dass der Organismus als Ganzer zu sterben Gefahr läuft.

Ihr Buch bauen Maci und Richmann im Sinne dieses Waldes auf: Sie porträtieren historische Ereignisse wie einzelne dieser Bäume, mit dem Vertrauen, dass dabei Familienähnlichkeiten zutage treten, ohne dass sie als solche ausbuchstabiert werden müssen. Das gelingt, weil der Roman sich nicht einem Freilegen von Wurzelgeflechten – im Sinne der Suche nach einem gemeinsamen Ursprung grundverschiedener Gewaltgeschichten – verschreibt, sondern eine sorgsame Analyse deren jeweiliger Rinde vornimmt. Die dichte Sprache, deren jeder zweite Satz auch eine Zeile Lyrik sein könnte, legt historische Kristallisationspunkte offen, in denen Horror, Trauer und Wut ebenso Platz finden wie die Erfahrungen von Geborgenheit, Liebe und Freude, die trotz allem in den Trümmern einer zerrütteten Welt sprießen.

0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop