Nuancen der Infamie

von Erich Hackl

Tagebuch, September/Oktober 1968


530 wörter
~3 minuten

In den Jahren 1966 bis 1969 erschien das von der KPÖ nur noch geringfügig unterstützte Tagebuch bzw. seine parteipolitisch völlig unabhängige Nachfolgezeitschrift Wiener Tagebuch alle zwei Monate. Trotz dieses für aktuelle Anlässe ungünstigen Erscheinungsrhythmus wurde die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in der Nacht zum 21. August 1968 schon in der September/Oktober-Nummer eingehend dokumentiert und diskutiert, mit Stimmen tschechoslowakischer, westeuropäischer und natürlich auch österreichischer Intellektueller, Betriebsräte und Arbeiterinnen. Diese reagierten damit auf eine »Erklärung zur Okkupation der CSSR«, die von 26 Mitgliedern des Redaktionsbeirats des Tagebuch unterzeichnet und Anfang September an die Abonnenten und Freundinnen der Zeitschrift ausgesendet worden war. Es gibt wohl keine andere Ausgabe des Tagebuch, die so viele prominente Originalbeiträge enthält. Neben Leuten wie Ernst Bloch, John Berger, Erich Fried, Leopold und Alfred Hrdlicka, Lucio Lombardo Radice oder Selma Steinmetz meldete sich auch der Philosoph Günther Anders zu Wort. Zum besseren Verständnis seiner beunruhigend aktuell wirkenden Stellungnahme sei erwähnt, dass die Schriftsteller Juli Daniel und Andrei Sinjawski im Februar 1966 unter dem Vorwurf der antisowjetischen Propaganda und wegen Veröffentlichung ihrer satirischen Schriften im Ausland in einem Moskauer Schauprozess zu fünf bzw. sieben Jahren Lagerhaft verurteilt worden waren.

Günther Anders

Neu beginnen

[...] Schon vor langem, unmittelbar nach der Festnahme von Daniel und Sinjawski, hatte ich öffentlich betont, dass nur diejenigen zu protestieren ein Recht hätten, die mit aller ihrer Energie auch gegen den Vietnamkrieg protestiert hätten. Diese »Warnung vor falschen Bundesgenossen« gilt heute wie damals. Die Empörungsschreie derer, die der amerikanischen Verwüstung Vietnams gegenüber indifferent geblieben sind oder diese geradezu gerechtfertigt haben, die nun aber plötzlich als passionierte Anwälte der Menschenrechte und des Friedens auftreten - wie gellend diese Empörungsschreie auch klingen mögen, in diese dürfen wir nicht miteinstimmen, diese Schreier bleiben unsere Feinde. Und dies gilt um so mehr, als die zwei militärischen Unternehmungen: die Blitzbesetzung der CSSR und der systematische Genocid in Vietnam tatsächlich zwei total verschiedene Aktionen sind. Wenn wir das betonen, also den Finger darauf legen, dass das stumme Überrollen der CSSR durch die russische Armee mit den Blutbädern und mit den Feuersbrünsten, die die USA in Vietnam anrichten, nicht verglichen werden darf, dass die Russen im Unterschiede zu den Vereinigten Staaten keinen Genocid begangen haben; dass die CSSR wieder geräumt werden könnte, während die Verbannten und die Zerbombten in Vietnam nicht ins Leben zurückgerufen werden können, so darf das von niemandem als Rechtfertigung der Aktion der Sowjetunion missverstanden werden. Analog zu dem vorhin Gesagten gilt: nur wer, wie wir das soeben getan haben, die Sowjetunion angeklagt hat, hat ein Recht darauf, zu mahnen, dass wir die Nuancen der Infamien und der Gewalttätigkeiten doch auch heute noch auseinanderhalten.
Wahr ist freilich, dass nun auch die Sowjetunion etwas Unwiderrufliches und kaum wieder Gutzumachendes angerichtet hat. Denn ob es je gelingen wird, die Schande, dass ein sozialistisches Land ein anderes unter der Vorspiegelung der Friedensrettung geschändet hat, abzuwaschen, das ist sehr fraglich. Vielleicht hängt das von uns ab. Beginnen wir von neuem! 

Wien, den 10.9.1968
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