Schreien oder Lachen

von Marko Dinić

Illustration: Lou Kiss

Während uns Leid und Unrecht aus aller Welt auf die Bildschirme gespült werden, bleiben unsere Möglichkeiten auf Scheinhandlungen beschränkt.


676 wörter
~3 minuten

Der 2008 verstorbene Schriftsteller David Foster Wallace ortete in der Postmoderne, der er literarisch angehörte, und einer aus ihr hervorgehenden, ironisierten Gesellschaft die Gefahr von Überheblichkeit: Wenn alles – also jedes Handeln, jede Entdeckung, jede Erkenntnis, jedes Wissen, ja die Kunst, die Wissenschaft und die Literatur selbst –, wenn alles mit der der Postmoderne ureigenen Ironie bedacht werden könne, bedeute dies im Umkehrschluss, die Welt, wie sie sich uns darbietet, sei schon zur Gänze entdeckt und als Mensch habe man nichts weiter dazuzulernen – außer vielleicht die Fähigkeiten, in unserem Falle also die medialen Skills, um in einer solchen durch und durch ironisierten Welt zu überleben.

Ob Wallace’ Kritik nun prophetisch war, sei dahingestellt; schließlich nahmen sich die Unwegsamkeiten unseres postfaktischen Zeitalters bereits in vielen anderen Menschheitskrisen vorweg. Was sich jedoch verändert hat, ist unser Blick auf die Dinge, ja auf die Welt selbst, die wir in unserer Hybris für so selbstverständlich erachten, dass wir auch die größte Krise unserer Zeit, nämlich die Klimakrise, wegzulachen vermögen, solange uns die Möglichkeit eingeräumt wird, unsere sardonischen Gesichter in die Kameras zu halten und dem unsichtbaren Anderen kundzutun, der wiederum keine Gelegenheit auslassen wird, unser virtuelles Treiben zu verfolgen und mit einem Kommentar zu versehen. Dass hinter den Social-Media-Plattformen, die vorgeben, jeder und jedem eine Stimme zu verleihen, echte Kapitalinteressen echter Kapitalisten stecken, ist Teil der Ironie, die als solche hinzunehmen ist, will man der eigenen Meinung auch diskursives Gewicht beimessen. Das gesellschaftliche Handeln wird dementsprechend selbstverschuldet eingeengt und auf wenige Zeichen zurechtgestutzt.

Dabei offenbart sich ein Widerspruch, mit dem umzugehen oder den gar aufzuheben wir als Menschheit immer noch nicht in der Lage sind: Top informiert, emotional aufgewühlt, wütend und zum Handeln bewegt, verharren wir mit unseren vorher uns gebildeten Meinungen vor den Feeds in Lethargie. Gleichzeitig herrscht die aus dem Druck der eigenen Peers geborene Annahme, sich zu jedem plattgewalzten Thema im Internet äußern zu müssen, wenngleich man dies oft im vollen Bewusstsein des eigenen Halbwissens tut. Frei nach dem Motto: »Es wurde alles schon gesagt, nur nicht von jedem« tritt an die Stelle der Kenntnis ein Sich-äußern-Müssen, welches zwischen den Unmengen an Kommentaren nur ein Scheinhandeln sein kann.

Gewiss, ganze Revolutionen wurden und werden über Social Media organisiert, Kriege medial begleitet, Kriegsverbrechen aufgedeckt, Menschenleben gerettet. Was aber hat das mit dem übrigen, vorwiegend in der westlichen Hemisphäre lebenden Rest zu tun: den zu Voyeurismus Verdammten, deren Solidarität aufs bloße Sehen, Kommentieren und Liken, aufs bloße Zuschauen und ergo aufs Scheinhandeln beschränkt bleibt – in deren Gesellschaften das Recht auf Versammlung und Protest zu einer Gunst der Machthaber verkommen ist? Wie können und sollen wir Gewalt im 21. Jahrhundert und mit ihr das Leiden anderer betrachten, während einem gleichzeitig suggeriert wird, dass alles nur ein unendlicher Spaß voller Fake News sei, solange man brav seine Supplemente frisst, in Krypto investiert und das eigene Ego streichelt? Was ist schon heutzutage Wahrheit – und was bitte Wirklichkeit? Wie können wir handlungsfähig werden in Gesellschaften, deren demokratisch legitimierte Institutionen und vor allem deren Wirtschaft ein großes Interesse daran haben, uns vor den Bildschirmen zu halten, damit wir eben nicht auf die Straßen gehen und uns auflehnen?

Zugegeben, mein Pessimismus rührt von der eigenen Handlungsunfähigkeit angesichts der Unmengen an Meinungen, die mitzuteilen offensichtlich zur Conditio humana geworden ist. Ich sehe das Leid der Menschen im Sudan und muss mich äußern; ich sehe das Leid der Menschen in Gaza und muss mich äußern; ich sehe 400.000 Menschen in Tel Aviv auf den Straßen und muss mich äußern; ich sehe, wie eine demokratische Revolution ausgerechnet in meinem Heimatland Serbien gewaltsam niedergeschlagen wird, und muss mich äußern – ich kommentiere mich, verharre aber in meinem Sessel; ich gehe auf die Straße und schreie meine Meinung einem Schwadron Polizisten entgegen, doch nichts geschieht; ich äußere mich, habe jedoch meine Stimme verloren; ich äußere mich, kommentiere, schreie, höre aber nur ein Lachen.

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