Jetzt wird es kurz persönlich. Ein besonderer Ort in meinem Leben ist die Jesuitenwiese im Wiener Prater. Einmal im Jahr findet dort das Volksstimmefest statt, seit 1946 schon, immer am ersten Septemberwochenende. Ursprünglich war es das Pressefest der Kommunistischen Partei Österreichs. Als ich es Anfang der 2000er-Jahre erstmals besuchte, fand ich eine wilde Mischung aus Aktivismus und Jahrmarktstimmung, wo linke Gruppen aller Schattierungen ihre politischen Angebote zwischen Bierzelt, Grillspieß und Kettenkarussell ausstellten. Ich kam immer wieder und fand im Laufe der Jahre alles, was das Leben ausmacht: Musik, Freund:innen, Diskussionen, Streit und Flirts, eine große Liebe und eine seltene Ausgabe von Gramscis Gefängnisbriefen. Nachts bewarfen sich rivalisierende Kommunist:innen mit Zitrusfrüchten, die an der Mojito-Bar liegen geblieben waren. Eine rundum sinnliche Erfahrung. Es war toll!

Beim Volksstimmefest 2019 traf ich Samuel Stuhlpfarrer, der gerade aus Graz nach Wien gezogen war. Er berichtete mir von seinen Plänen: eine linke Zeitschrift, wie es sie in Österreich noch nie gegeben habe. Keine DIY-Ästhetik, sondern sorgfältig gestaltete, professionell aufbereitete Texte zu Politik, Kultur und Geschichte. Den Namen habe er auch schon, sagte Samuel, er sollte einer verblichenen Zeitschrift der österreichischen Linken entliehen werden, die der KPÖ einst zu freisinnig geworden und deshalb in die Unabhängigkeit entlassen worden sei. Ob ich nicht mitmachen wolle, beim neuen TAGEBUCH? Zwei Monate später erschien die Nullnummer, im neuen Jahr dann die erste reguläre Ausgabe. Das Schiff war losgesegelt, und ich war an Bord.

Wäre ich Samuel damals nicht am Volksstimmefest begegnet, würde ich jetzt wohl etwas anderes machen. Aber weil die Jesuitenwiese Anfang September ein schicksalsträchtiger Ort ist, darf ich diese Zeilen als neuer Chefredakteur des TAGEBUCH schreiben. Jana Volkmann, auch schon seit November 2020 Teil der Redaktion, würdigt den bisherigen Chefredakteur und TAGEBUCH-Gründer im »Nachdruck«, ich schließe mich mit Nachdruck an: Danke für alles, lieber Samuel – das nächste Getränk auf der Jesuitenwiese geht auf mich!

Manche mögen es frivol finden, sich in düsteren Zeiten in Feierstimmung zu versetzen. Für die Historikerin und politische Theoretikerin Juliana Gleeson ist es aber gerade das, was befreiende Politik ausmacht. Sie erzählt im Gespräch mit Katharina Hajek von der Bedeutung von Humor in ihrer Arbeit über trans und Intersex-Bewegungen und davon, wie es in einer so bedrohlichen politischen Lage wie der gegenwärtigen darauf ankommt, sich nicht vom eigenen, auch lustvollen Erfahren abzukoppeln. »In dieser sehr angespannten, risikoreichen Situation«, so Gleeson, »wird es immer wichtiger, das Sinnliche und das Übersinnliche, unser eigenes intimes Erfahren und die Gesamtanalyse einer Gesellschaft in eine Art Beziehung zueinander zu bringen.«

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe versucht, diese Beziehung zu stiften, er umkreist die Gefahr der globalen Transfeindlichkeit aus analytischer, persönlicher, künstlerischer und politischer Perspektive, mit Beiträgen des Journalisten Sascha Kerschhaggl, des Kabarettisten Kian Kaiser und der Filmemacherin Isa Schieche. Sie alle schreiben als Menschen, die, wie Kaiser es formuliert, sich erlaubt haben, ihr Geschlecht zu klären, und dadurch nicht nur ihre Biografie korrigiert, sondern auch eine kollektive Geschichte durchbrochen haben. Ich bin sehr froh, dass wir sie als Autor:innen dieser neuen TAGEBUCH-Ausgabe gewinnen konnten.

Das Sinnliche war für das TAGEBUCH von Anfang an wichtig – und ist für mich ein Grund, warum ich so gerne daran arbeite. Es liegt schwer in den Händen, riecht nach Zellulose und Druckerei – wenn man schnell darin blättert, spürt man einen Lufthauch im Gesicht. In Zukunft wird es noch mehr Gelegenheiten geben, das TAGEBUCH mit allen Sinnen zu erfahren. Wir bereiten derzeit einen neuen TAGEBUCH-Podcast vor, planen Live-Veranstaltungen (die erste schon am 10. Oktober im Wiener »depot« mit den Autor:innen des Schwerpunkts) und laden als Medienpartner zur Attac-Diskussionsreihe »Die neue Zeit kommt nicht von allein« mit Lisa Mittendrein, die am 22. Oktober mit Cecilia Rikap in die neue Saison startet (siehe das Interview in dieser Ausgabe). Es wird toll!

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