Geister der Vergangenheit

von Benjamin Opratko

Illustration: Aelfleda Clackson

Putin hat sich für Krieg und gegen Frieden entschieden. Dennoch gilt es, chauvinistischen und militaristischen Aufwallungen zu widerstehen, die nur weiter an einer globalen Eskalationsspirale drehen.


1608 wörter
~7 minuten

Wer im Sturm der weltpolitischen Ereignisse davongetragen wird, sucht nach Halt in der Geschichte. Seit die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine meinte, in einer neuen Welt aufgewacht zu sein, suchen allerorten politische Kommentatoren und Analytikerinnen das Alte im Neuen. Schiefe historische Analogien leiten ihr Schreiben, rüsten die Empörung ein und ersetzen das Denken. Die wohlfeilste Referenz ist, wie immer, der Nationalsozialismus. Putin sei Hitler, der Angriffskrieg auf die Ukraine ein Genozid oder gleich »industrieller Massenmord«. Wer vorsichtig auf die Vorgeschichte des Konflikts verweist oder im Angesicht eines drohenden Weltkriegs zwischen Nuklearmächten auf Verhandlungen auch unter noch so miserablen Bedingungen setzt, betreibe »Appeasement«. Nicht dass der historische Vergleich keine Erkenntnisse zeitigen könnte. Doch er wird nicht eingesetzt, um zu fragen, ob das Regime Putins im Begriff ist, sich zu faschisieren – und was das unter gegenwärtigen Bedingungen bedeuten würde. Er eröffnet keine Verbindungen zu Analysen, die schon vor dem Ukraine-Krieg Tendenzen hin zu einem »fossilen Faschismus« (Andreas Malm und das Zetkin Collective) untersucht haben. Stattdessen dient dieser Vergleich der Legitimierung von Aufrüstung und militärischer Eskalation. Wer will sich schon vorwerfen lassen, den neuen Hitler nicht mit allen Mitteln stoppen zu wollen? Als Nebeneffekt dient er in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus auch noch der geschichtspolitischen Reinwaschung. Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte jüngst die deutsche Botschaft in Südafrika. Sie konterte auf Twitter der Kriegspropaganda der russischen Botschaft, die den Angriffskrieg zum »Kampf gegen den Nazismus in der Ukraine« erklärte: Man könne diesen Zynismus nicht unkommentiert lassen, Russland schlachte Frauen und Kinder in der Ukraine ab und kämpfe definitiv nicht gegen den »Nazismus«. Statt es dabei zu belassen, endete der Konter halb verschämt mit einer Parenthese: »(Sadly, we’re kinda experts on Nazism.)« So salopp wurde der Holocaust noch selten in den Ausweis deutscher moralischer Überlegenheit übersetzt.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist eine welthistorische Katastrophe, für die Putins Regime die Verantwortung trägt. Das Ausmaß der Verheerungen lässt sich noch gar nicht absehen. Meldungen über russische Kriegsverbrechen erreichen uns fast im Stundentakt, nie seit 1945 waren mehr Menschen in Europa vor einem Krieg auf der Flucht. Jene, die den Wahnsinn des Krieges überleben, werden die Traumata, die Ausbildung von »Körperpanzern« (Klaus Theweleit) bis an ihr Ende mit sich tragen und den nächsten Generationen vererben. Die Waffen in den Händen jener, die ihr Land gegen eine Invasion verteidigen, werden nach einem hoffentlich bald einsetzenden Kriegsende nicht verschwinden und die menschlichen Beziehungen noch lange brutalisieren. Und all das, noch einmal soll es betont werden, weil Putin sich für den Krieg und gegen den Frieden entschieden hat.

Das lässt sich auch ohne Nazi-Vergleiche feststellen, ja, es muss anders verstanden werden. Andernfalls fällt man auf die eigenen historischen Analogien herein und meint, der Abwehrkampf der Ukrainer wäre eine Neuauflage von Barcelona 1936 – oder fordert gar den Eintritt der NATO in den Krieg, um dem Wiedergänger Hitlers Einhalt zu gebieten. Angesichts linksliberaler Twitter-Generäle, die im Namen von Demokratie und Freiheit die Durchsetzung einer »Flugverbotszone« fordern – was einen offenen Krieg zwischen NATO und Russland zur Folge hätte, der die Welt in Brand setzen würde – ist man fast froh, dass in den militärischen Entscheidungszentralen des Westens kühl kalkulierende Machtrealisten das Sagen haben und keine Grünen, die uns mit »wertebasierter Außenpolitik« in den Weltkrieg treiben, weil man Putin seine Aggression nicht durchgehen lassen dürfe.

Die Lage ist beschissen, die Optionen nur in Nuancen unterschiedlich schlecht, die Widersprüche fast unerträglich. Kurzfristig gibt es keine gute Lösung für diesen Konflikt. Die am wenigsten schlechte ist jene, die das Töten am schnellsten beendet und Russland so wenig Kontrolle über ukrainische Gebiete belässt wie dafür nötig. Am vorläufigen Ende wird im besten Fall ein schlechter Kompromiss stehen, der immerhin Leben rettet. Alles, was dazu beitragen kann – insbesondere Sanktionen, die die ökonomische und politische Machtbasis des Putin-Regimes, die Oligarchen und ihre fossile Exportwirtschaft mit aller Härte treffen –, ist zu begrüßen. Währenddessen ist zu leisten, was zu leisten ist: praktische Unterstützung für Geflüchtete, politischer Druck auf die eigenen Regierungen, um offene Grenzen und humanitäre Hilfe zu gewährleisten, Solidarität mit allen, die unter dem Krieg leiden.

In der Öffentlichkeit gilt es jenen Kontra zu geben, die den Krieg im Nachhinein besserwisserisch zur Unvermeidlichkeit erklären. Denn die außenpolitischen Auguren beiderseits des Atlantiks nutzen den Krieg, um ihre ewigen Wahrheiten mit neuer Vehemenz zu vertreten. Russland überfällt einen Nachbarstaat? So verhalte sich eine Großmacht im Weltsystem eben, wenn sie sich militärisch in Bedrängnis gebracht sehe, sagt der »offensive Realist« John Mearsheimer im New Yorker. So sei die russische Seele halt, die seit Jahrhunderten zu Autokratie, Militarismus und Repression neige, widerspricht der Russlandforscher Stephen Kotkin an gleicher Stelle ein paar Tage später. Falsche Verallgemeinerungen auf allen Seiten. Dazwischen geschichtsvergessene Liberale, die entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil Putin eigenhändig unsere schöne wertebasierte Weltordnung zerstört hätte. Man kann offenbar heute Historikerin sein und sich nicht einmal an den letzten Irakkrieg erinnern. Unterdessen cancelt Netflix eine Tolstoi-Adaption, beenden Universitäten die Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftern, benennen Bars in Prenzlauer Berg den Moscow Mule in Kiew Mule um. Der Grat zwischen symbolischer Solidarität und antirussischem Ressentiment ist schmal.

Mittelfristig muss es darum gehen, der globalen Militarisierung und Aufrüstung entgegenzutreten. Das wird auf absehbare Zeit eine Minderheitenposition bleiben. Die deutsche Bundesregierung hat bekanntlich die Bereitstellung von Sondermitteln für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro angekündigt sowie eine Änderung des Grundgesetzes, um jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts dem Militär zuzuführen. Zugleich soll die ebenfalls im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse beibehalten werden, was einer automatischen Umlenkung des jährlich neu geschaffenen gesellschaftlichen Reichtums von Sozial-, Umwelt- und Infrastrukturausgaben in die Aufrüstung gleichkommt. Widerrede kommt allein von der schwächelnden Linkspartei und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Von Finnland bis zum Kosovo treibt Putins Krieg europäische Nationen in die NATO, selbst in Österreich gerät der Traditionsbestand Neutralität unter Druck. Weite Teile der liberalen und linken Öffentlichkeit in ganz Europa lassen sich von der Kriegsdynamik mitreißen. Doch gilt es standhaft zu bleiben, den chauvinistischen und militaristischen Aufwallungen zu widerstehen und eine Position einzunehmen gegen Aufrüstung und Militarisierung, die nur weiter an einer globalen Eskalationsspirale drehen. Vielleicht müssten dazu andere historische Bezüge, wie behelfsmäßig auch immer, bemüht werden: Im September 1915 trafen sich Vertreterinnen und Vertreter von Arbeiterparteien aus zwölf europäischen Ländern, die sich nicht vom Taumel des Ersten Weltkriegs hatten mitreißen lassen (und gerade deshalb in nur vier Kutschen passten), zu einer Konferenz im Schweizer Ort Zimmerwald. Das dort einstimmig angenommene Manifest hielt fest: »Welches auch immer die Wahrheit über die unmittelbare Verantwortung für den Ausbruch dieses Krieges sei – das eine steht fest: Der Krieg, der dieses Chaos erzeugte, ist die Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren.« Den Krieg nicht auf die Taten eines durchgeknallten Despoten zu reduzieren, sondern ihn in den Zusammenhang von Kapitalismus und Naturzerstörung zu stellen, müsste auch heute Ausgangspunkt für die Feststellung einer antimilitaristischen Politik in Europa und der Welt sein. Die Linksparteien des heutigen Europas, besonders jene mit Ressourcen gut ausgestattete in Deutschland, sollten die Verantwortung übernehmen, eine solche Verabredung der internationalen Anti-Kriegs-Linken – unter Einbeziehung solcher in Russland und der Ukraine – zu organisieren. Wenn schon nicht in Zimmerwald, dann zumindest auf Zoom.

Langfristig wird die große Herausforderung für Linke in Europa sein, sich in der neuen Weltunordnung zurechtzufinden und in ihr eine Daseinsberechtigung zu finden. Der Krieg in der Ukraine ist Teil eines welthistorischen Prozesses, in dem die globale Macht der USA, eine ihren geopolitischen und ökonomischen Interessen entgegenkommende liberale internationale Ordnung aufrechtzuerhalten, schwindet. Was an die Stelle der US-dominierten neoliberalen Globalisierung tritt, lässt sich gerade erahnen: eine multipolare Welt, in der politische und ökonomische Macht in verschiedenen Zentren jeweils noch stärker ineinandergreifen. In der die Machtblöcke – USA, China, Russland, EU und andere – nach »strategischer Autonomie« streben, sich technologisch, ressourcentechnisch und infrastrukturell entflechten und ihre jeweiligen Streitkräfte ausbauen. In der die Logik der Großmachtpolitik, der regionalen Einflusssphären und der militärischen »Hard Power« bis hin zur nuklearen Aufrüstung an Bedeutung gewinnt. In der zugleich eine transnationale Elite unermessliche Reichtümer in Steuersümpfen lagert und sich mehrere Pässe leisten kann, in der von Megalomanen geführte Tech- und Investmentkonzerne über die Ausrichtung technologischer Entwicklung und Infrastruktur entscheiden und neue Formen souveräner Macht beanspruchen. Und das alles auf einem sich rasant erhitzenden Planeten, auf dem der Fortbestand menschlicher Zivilisation davon abhängt, ob es gelingt, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen und technologische Gegenmaßnahmen zur Erhitzung im globalen Maßstab, in internationaler Kooperation zu implementieren.

Es ist schwer, dieser Tage nicht zum Apokalyptiker zu werden. Was vielleicht Hoffnung geben kann, ist, dass den Herrschenden und ihren Lakaien nicht viel mehr einfällt, als die Geister der Vergangenheit zu beschwören: Nation, Ehre, Treue, Ruhm und die Verteidigung des Eigenen. Den weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen entgegenzusetzen wäre gerade im Angesicht der Katastrophe: ein Plan für die Zukunft, in Frieden und Wohlstand.

»Es gilt jenen Kontra zu geben, die den Krieg im Nachhinein zur Unvermeidlichkeit erklären. Die außenpolitischen Auguren beiderseits des Atlantiks nutzen ihn, um ihre ewigen Wahrheiten mit neuer Vehemenz zu vertreten.«
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