Kein Grund zur Entwarnung

von Karl Heinz Roth

Illustration: Aelfleda Clackson

Wir werden auch künftig mit Pandemien leben müssen. Also sollten wir überlegen, wie wir damit umgehen.


948 wörter
~4 minuten

Covid-19 ist die schlimmste atemwegsspezifische Pandemie seit der Influenza-Katastrophe von 1918 bis 1920. Bis jetzt sind weltweit mehr als 400 Millionen Infizierte und 5,8 Millionen Todesopfer registriert worden. Unter Berücksichtigung der Dunkelziffern ist davon auszugehen, dass etwa zwei Milliarden Menschen Kontakt mit dem Erreger hatten und ihm etwa sieben bis acht Millionen zum Opfer gefallen sind. Bei dieser Pandemie handelt es sich um ein komplexes Geschehen, das wellenförmig verläuft. Geringfügige und nicht voraussagbare Ereignisse, etwa minimale Veränderungen des Virusgenoms, können gravierende Folgen nach sich ziehen. An dieser Konstellation hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert, aber es kam zu wichtigen Modifikationen. Sie sind dem Auftreten von fünf Virusvarianten geschuldet. Das von ihnen ausgehende Ansteckungsrisiko hat sich ständig erhöht. Die Gefahr, ernsthaft zu erkranken, hat sich jedoch verringert, während die Fähigkeit der Erreger zur Umgehung der menschlichen Immunabwehr gestiegen ist. Zuletzt stiegen die Infektionszahlen rasant bei jedoch rückläufigen schweren oder tödlichen Verläufen. Das ist nicht zuletzt auf die seit der Jahreswende 2020/21 eingeführten Impfstoffe und die verbesserte medizinische Behandlung zurückzuführen.

Trotz aller Vorwarnungen waren die politisch wie medizinisch Verantwortlichen auf eine solche Pandemie nicht vorbereitet. Es gab keine Vorratslager zum Hochfahren der Basis- und Infektionshygiene. Klinische Reservekapazitäten zur Trennung der Infizierten von den übrigen Schwerkranken standen nur auf dem Papier zur Verfügung. Die Alten- und Pflegeheime waren völlig unvorbereitet. Auch die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen war wieder aufgegeben worden, nachdem die von Sars-CoV-2-ähnlichen Viren ausgelösten Vorläuferepidemien der Jahre 2003/04 und 2012/13 (Sars und Mers) endemisch geworden waren.

Auf dieses Desaster antworteten die politisch Verantwortlichen mit Panikreaktionen. Sie erhoben die Eindämmung der Ansteckungen zum alleinigen Maßstab, statt sich am Ausmaß der Hospitalisierungen und Sterbefälle zu orientieren, die Krankenhäuser und Pflegeheime gezielt zu schützen und ihre Kapazitäten zu erweitern. So kam es zu den hohen Sterberaten unter älteren und chronisch kranken Menschen, die bis in die dritte Pandemiewelle des Frühjahrs 2021 anhielten. Bei den allgemeinen Eindämmungsversuchen zeigte sich häufig ein hilfloser Aktionismus. Obwohl früh bekannt war, dass sich der Erreger vor allem in geschlossenen und unbelüfteten Räumen ausbreitet, wurden die Menschen in ihren Wohnungen und Quartieren eingesperrt, Ausgangssperren verhängt und die Parks geschlossen.

Von Anfang an existierten auch alternative Konzepte, die allerdings weitgehend marginalisiert wurden. Das Argument der unter extremem Handlungs- und Zeitdruck zustande gekommenen »unvermeidlichen Fehler« hat dabei vor allem Alibifunktion und schließt Lernprozesse aus. Dies zeigt ein Blick auf die seit der dritten Welle in Gang gekommene Verbindung der Kontaktbeschränkungen mit spezifisch epidemiologischen Vorbeugemaßnahmen, insbesondere den Massentests und der Impfkampagne.

Es hat sich ein Impfnationalismus breitgemacht, der mit immer stärkeren Zwangsmaßnahmen zur Maximierung der Impfquoten einhergeht. Die globale Ausbreitung weiterer Varianten und daraus resultierender Pandemiewellen kann jedoch nur durch eine weltweit greifende und synchron organisierte Steigerung der Impfquoten erreicht werden. Als sich in Indien die Delta-Variante entwickelte, waren noch nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung geimpft; bei der Ausbreitung der Omikron-Variante im südlichen Afrika waren es dort zwischen acht und zwölf Prozent. Angesichts dieser Fakten ist es abwegig, die in den reichen Ländern auf 70 bis 75 Prozent gesteigerte Quote durch Zwangsmaßnahmen um weitere fünf Prozent erhöhen zu wollen und den globalen Süden sich selbst zu überlassen.

Die gesundheitspolitischen, mentalen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und ihrer Bekämpfung sind gravierend. Sie werden sich weiter verschärfen und die innergesellschaftlichen Polarisierungen vertiefen. Nur in den reichen Nationalökonomien gelang es, die Schäden zu mildern. In den Schwellen- und Entwicklungsländern der Peripherie war dies nur sehr begrenzt möglich. Die Massenarmut hat sich deutlich verstärkt. Da das nur noch rudimentär vorhandene Gesundheitswesen ganz auf die Pandemiebekämpfung ausgerichtet wurde, sind andere Massenkrankheiten – Tuberkulose, Malaria und Aids – wieder auf dem Vormarsch.

Das Gesundheitswesen ist in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend skelettiert worden. Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime sowie die medizinische Forschung sind kommerzialisiert worden. Die global operierenden Kapitalvermögensbesitzer haben sie als krisensichere und renditeträchtige Anlageobjekte entdeckt. Schon unter Normalbedingungen bewegt sich das Gesundheitswesen am Limit – mit überlasteten, schlecht entlohnten Belegschaften und bar aller »unrentablen« Reservekapazitäten. Einer mittelschweren Pandemie ist es nicht gewachsen.

Im dritten Jahr der Pandemie ist nicht nur eine kritische Standortbestimmung angezeigt, es sollte auch darüber nachgedacht werden, wie sich diese Pandemie weiterentwickeln könnte. Zur Entwarnung gibt es nämlich keinen Grund. Inzwischen haben sich in zahlreichen Wild- und Nutztierarten neue Virusreservoire gebildet, in denen sich auch nach dem Abklingen der Pandemie weitere Varianten entwickeln werden, die wieder auf den Menschen rückübertragen werden könnten. Covid-19 kann somit jederzeit neu aufflackern – saisonal in den Herbst-Winter-Perioden der beiden Welthemisphären, zusätzlich unterbrochen durch weitere, unterschiedlich schwere Pandemieereignisse, die sich auf die nächsten Dekaden verteilen.

Statt des bisherigen Aktionismus sollten wir uns auf Alternativprogramme verständigen, die vor weitreichenden Konsequenzen nicht zurückschrecken. Es ist dringend geboten, das Gesundheitswesen, von der Basisversorgung bis zur medizinischen Forschung, als erstrangiges Gemeingut in den Fokus zu rücken – lokal, regional und global. Nur wenn es entprivatisiert und rekommunalisiert wird, können jenseits von Rentabilitäts- und Renditekriterien Reservekapazitäten aufgebaut, die Arbeitsbedingungen und Entgelte der dort Beschäftigten verbessert und die medizinischen Forschungskapazitäten so reorganisiert werden, dass man pandemische Ausnahmesituationen bewältigen kann. Diese Akutmaßnahmen ergeben jedoch nur Sinn, wenn sie mit Initiativen zur mittelfristigen Beseitigung der biomedizinischen Ursachen der Pandemien verbunden werden: der Zerstörung der natürlichen Umwelt, der Klimakatastrophe und der Massentierhaltung.

»ES IST DRINGEND GEBOTEN, DAS GESUNDHEITSWESEN ALS ERSTRANGIGES GEMEINGUT IN DEN FOKUS ZU RÜCKEN – LOKAL, REGIONAL UND GLOBAL.«
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