Unter Beobachtung

von Nicole Schöndorfer

Die kurdische Diaspora ist im Visier der türkischen Behörden. Die Wienerin Mülkiye Laçin ist eine der Betroffenen.


1494 wörter
~6 minuten

Es klingelt. Als Mülkiye Laçin ihre Wohnungstür öffnet, sagt eine Männerstimme erfreut ihren Namen. Die beiden plaudern ein paar Minuten im Stiegenhaus. Später erzählt sie, dass es einer ihrer Nachbarn war. Er wollte sie bloß begrüßen und sich versichern, dass sie nach allem, was passiert ist, nicht ausziehen müsse. 

Es ist erst wenige Tage her, dass Laçin am 12. Jänner nach Wien zurückgekehrt ist. Knapp sechs Monate saß die 57-Jährige zuvor in ihrem unfertigen Haus in einem kleinen Dorf in der türkischen Provinz Tunceli (kurdisch: Dêrsim) fest. Am 17. Juli 2019 wurde sie dort von einem großen Polizeiaufgebot festgenommen und durchsucht, am nächsten Tag von einem Richter und einem halben Dutzend Geheimdienstmitarbeitern verhört. Die Vorwürfe: Propaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation. 

Nach dem ersten Verhandlungstag am 9. Januar wurde das bei der Festnahme verhängte Ausreiseverbot aufgehoben. Laçin durfte zurück nach Wien, wo sie seit 1984 lebt und seit 25 Jahren als Freizeitpädagogin arbeitet. Verantwortlich dafür macht sie den medialen und diplomatischen Druck. Letzterer wurde erst ausgeübt, nachdem sich geklärt hatte, dass Laçin tatsächlich österreichische und nicht etwa türkische oder Doppelstaatsbürgerin ist. Zum Prozess am 9. Jänner war immerhin der österreichische Botschafter aus Ankara angereist. 

Am 14. Mai soll der Prozess gegen die Wienerin fortgesetzt werden. Ihre Anwesenheit ist dann nicht mehr vonnöten. Laçins Anwalt Barış Yıldırım forderte in seiner Verteidigung den Freispruch seiner Mandantin, da gemäß den Kriterien des türkischen Strafgesetzbuches keine irgendwie gearteten illegalen Aktivitäten vorliegen würden. Der Staatsanwalt sieht das naturgemäß anders. 

Kurdin, Alevitin, Frau

Wer ist diese Frau, die das türkische Regime für so gefährlich hält, dass es über Jahre Informationen über sie sammeln ließ, um sie dann ohne Vorwarnung in ihrem Sommerurlaub festzusetzen und mit bis zu zehn Jahren Gefängnis zu bedrohen?

»VIELE VON UNS HABEN VERWANDTE UND BEKANNTE IN DER REGION. WIE KANN MAN VERLANGEN, DASS WIR UNS NICHT MIT DEM AUSEINANDERSETZEN, WAS DORT PASSIERT?«

Laçin ist geborene Kurdin. Sie ist Alevitin. Sie ist eine Frau. Drei Zuschreibungen, die sich, wie sie selbst sagt, gegenseitig verstärken im Zusammenhang mit einer kritischen Haltung gegenüber der Türkei. Sie engagiert sich politisch und ist in der kurdischen Community in Wien sehr gut vernetzt – eine Zeit lang war sie im Vorstand des Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrums. Ein Kulturverein, dem in der nur vierseitigen Anklageschrift gegen Laçin immer wieder Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die nicht nur in der Türkei, sondern auch in der EU als Terrororganisation geführt wird, und ihr angeblich nahestehenden Organisationen attestiert wird. Auch vor Gericht wurde Laçin immer wieder nach ihren Aktivitäten im Kontext des Vereins gefragt. Es ist ein durchsichtiges Manöver der türkischen Justiz: Die Staatsanwaltschaft versucht, durch solche Fragen hierarchische Strukturen zu konstruieren, die theoretisch nachvollziehbar sein müssen, um den Tatbestand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu untermauern. Am 9. Jänner betont Laçin dagegen erneut, dass das Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum ein nach österreichischem Recht agierender und damit legaler Verein ist. 

Zurück in Wien beschreibt Laçin ihr Engagement so: »Ich habe eine Brückenrolle gespielt. Ich bin schon lange hier, ich spreche die Sprachen, ich kenne die Kulturen. Das war wichtig für die Menschen im Verein, für die Frauen und Kinder und auch für Österreich«. Und natürlich verfolge man in der Diaspora auch die Vorgänge in Kurdistan: »Viele von uns haben Verwandte und Bekannte in der Region. Wie kann man verlangen, dass wir uns nicht mit dem auseinandersetzen, was dort passiert? Mit Krieg, mit der Vergewaltigung und Entführung von Frauen, mit explodierenden Bomben, durch die Kinder sterben? Wenn solche Vereine nicht existieren würden: Wo sollten die Menschen mit ihren gemeinsamen Sorgen und Problemen hin? Wo sollten sie darüber reden?«

Laçin spielt auf die systematische Diskriminierung und politische Verfolgung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei an, auf die brutale Zerschlagung ihrer solidarischen Strukturen, auf die im Oktober 2019 begonnene Militärinvasion in Nordostsyrien und auf die lange Geschichte der von der Türkei begangenen Verbrechen an Kurdinnen, Alevit-

innen und anderen ethnischen Minderheiten. Laçins Haltung blieb der türkischen Justiz nicht verborgen. Nach ihrer Verhaftung hielt die Anklage ihr Auszüge aus einer Rede auf einer Kundgebung zum 1. Mai vor. Dazu ihre Aktivitäten auf Facebook. Dort postete Laçin kurdische Lieder, wünschte »Biji Newroz« und gebrauchte den Begriff »Kurdistan«. Schon die Verwendung des Wortes gilt als Propaganda und ist verboten – »Kurdistan« darf es offiziell nicht geben. »Die türkischen Behörden tun trotzdem so, als würden sie die Minderheitenrechte der Kurden anerkennen. Sie machen sich ihre eigenen Regeln. Je nachdem, wie es ihnen gerade passt. Der Rechtsstaat funktioniert nicht«, sagt Mülkiye Laçin.

Eine Botschaft an alle

Ihre Geschichte reiht sich in eine ganze Serie ähnlich gelagerter Fälle ein. Bis Februar 2018 wurde der deutsche Journalist Deniz Yücel ein ganzes Jahr, fast 300 Tage davon isoliert, inhaftiert. Erst vergangenen September sprach die türkische Justiz den linken Journalisten und Aktivisten Max Zirngast frei – er war bis Dezember 2018 in Ankara eingesperrt gewesen. In beiden Fällen unterstellten die Anklagebehörden – wie auch bei Mülkiye Laçin – Terrordelikte. Was die Fälle gemeinsam haben? In hohem Maße konstruierte Anklagen und Willkür. Ein Wort, um das man im Zusammenhang mit den Einschüchterungsversuchen des türkischen Staats gegen kritische Stimmen ohnehin selten herumkommt. Dahinter verbirgt sich eine subtile Botschaft, die nämlich, dass es alle treffen kann. Politisch aktive Kurdinnen werden so dazu gebracht, sich besser zweimal zu überlegen, was und wo sie etwas über die Türkei sagen und ob sie an öffentlichen Kundgebungen teilnehmen. Als zu groß hat sich in den letzten Jahren die Gefahr erwiesen, ausspioniert, verfolgt und eingesperrt zu werden. 

Einen Beitrag dazu leisten nicht nur türkische Behörden und ihre Dienste im Ausland. Im Verfahren gegen Max Zirngast geriet zuletzt etwa die Staatsanwaltschaft Graz in die Kritik – sie kooperierte nicht nur freimütig mit den Behörden der Türkei, sondern eröffnete gleich ein eigenes Ermittlungsverfahren gegen den Aktivisten. 

Auch in Deutschland kam es in letzter Zeit wiederholt zu Repressionsversuchen gegen Kurdinnen und kurdische Organisationen. Im Dezember letzten Jahres wurde an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bekannt, dass sich das türkische Generalkonsulat wegen angeblich verfassungsfeindlicher Aktionen der kurdischen Studierendenvereinigung Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK) zweimal intervenierend an das Justiziariat der Universität gewandt haben soll. Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) verurteilte dies als Kriminalisierung der Studierenden und sprach empört von einer unangemessenen Einmischung in die Hochschulpolitik. Außerdem erregte zuletzt der Fall von Zozan G. Aufmerksamkeit in der kurdischen Community. Deren 13-jährige Tochter engagierte sich in der Vergangenheit politisch und nahm etwa an einer Demonstration gegen die Total-Isolation des lebenslang inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan teil. Der fünffachen Mutter drohte deshalb der Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder durch das Amtsgericht Oberhausen. Erst Ende Jänner wurde das Verfahren gegen Auflagen eingestellt.

Stichwort Öcalan: Dass in Österreich regimekritische Aktivitäten nicht undokumentiert bleiben, zeigt ein weiterer Punkt in Mülkiye Laçins Anklageschrift, der ihr ihre Teilnahme an den Botschaftsbesetzungen durch Kurdinnen in Wien vorwirft, nachdem Abdullah Öcalan in Kenia aufgegriffen und verhaftet wurde. Das war im Jahr 1999. Ihr Name scheint den Behörden demnach bereits seit 20 Jahren bekannt zu sein. »Natürlich wird man in so einer Situation parteiisch«, sagt Laçin über den damaligen Protest. »Das habe ich auch vor Gericht gesagt.« 

»Das ist jetzt mein Rucksack«

Auf die Frage, was nun passieren werde, erwähnt Laçin nicht ihre Person, sondern zuerst das Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum sowie die Föderation kurdischer Vereine Österreich (FEYKOM). Das Gericht in Tunceli hatte am Ende entschieden, dass über Vermittlung des Justizministeriums die österreichischen Behörden gefragt werden sollen, ob diese in irgendeiner Form mit der PKK in Verbindung stünden. Obwohl diese Frage eigentlich keine ist, werden die österreichischen Behörden die Verbindung auf Ansuchen der türkischen Behörden prüfen müssen. »Sie werden versuchen, Druck auszuüben, um den Verein zuzusperren«, sagt Laçin. »Er wird unter strenger Beobachtung stehen und durchsucht werden. Es kann sein, dass noch andere dort aktive Menschen Probleme bekommen werden. Ich wünsche mir, dass der österreichische Staat die Wichtigkeit dieser Vereine anerkennt und sie verteidigt«.

Die letzten Monate während ihres Zwangsaufenthalts in der Türkei waren schwer für Mülkiye Laçin. Sie erzählt von Machtlosigkeit, von Hilflosigkeit, von Ratlosigkeit: »Es ist schlimm, dass wir uns einschränken müssen. Dass wir unsere Meinung nicht sagen dürfen. Dass wir uns beobachtet fühlen. Ich muss jetzt natürlich aufpassen. Ich kann nicht mehr ich sein, wenn ich mich immer unter Kontrolle halten muss. Das ist jetzt mein Rucksack«.

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