Am 5. Februar ließ sich der FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens wählen. Der Vorgang war unter den handelnden Personen abgesprochen, die Stimmen der extremen Rechten eingepreist. Der Testballon, den CDU und FDP im Freistaat steigen ließen, platzte allerdings schon kurz nach dem Start. Kemmerich musste nach spontanen Demonstrationen (in 15 deutschen Städten) und erheblichen Irritationen (in der eigenen Partei und im Kanzleramt) zurücktreten. Wenn hält, was Rot-Rot-Grün und CDU Ende Februar in Erfurt vereinbart haben, soll Bodo Ramelow von der Linkspartei nun wieder übernehmen.
Interessanter noch als deren lokale Verwerfungen ist indes die bundespolitische Dimension der Erfurter Ereignisse. Annegret Kramp-Karrenbauer hat nach der Wahl
Kemmerichs und noch vor ihrer ersten Kanzlerinnenkandidatur den CDU-Vorsitz wieder abgegeben. Mit dem ehemaligen Fraktionschef Friedrich Merz hält nun just jener Mann die besten Karten für ihre Nachfolge in der Hand, der am deutlichsten für einen Bruch mit der Ära Merkel steht. Einmal gewählt, dürfte Merz die dominante Mitte-rechts-Kraft in der mächtigsten Volkswirtschaft Europas weiter an den Rand, und damit näher an die AfD, führen.
In Österreich ist ein solches Politik-Modell mit der Übernahme der ÖVP durch Sebastian Kurz bereits erfolgreich eingeführt. Ist die ÖVP durch die Aneignung rechtsextremer Positionen selbst zur rechtsextremen Partei mutiert? Diese Frage bewerten Julia Brandstätter und Natascha Strobl jeweils unterschiedlich im Rahmen unsere PRO & CONTRA-Serie (Seite 12 und 13).
Am Anfang von Thüringen stand übrigens Kramp-Karrenbauers Weigerung, die Ermöglichung der Wahl Bodo Ramelows durch die Landes-CDU zu billigen. In der CDU gilt die Linkspartei nach wie vor als nicht satisfaktionsfähig. Zumindest am Papier trifft das auch auf die AfD zu. Die Gleichsetzung dieser beiden Parteien fällt nicht vom Himmel, sie ist Staatsdoktrin. Für die BRD erfüllte die ahistorische Rede von den »zwei Diktaturen« gleich mehrere Funktionen – die beiden wichtigsten: die Relativierung des Hitler-Faschismus und die Diskreditierung der DDR. Dass sie dieser Tage mit Bodo Ramelow einen der reputierlichsten Linken-Politiker trifft, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, macht die Sache aber nicht weniger skandalös.
Seit der »Wiedervereinigung«, schreibt der Soziologe Helmut Dahmer in seiner Besprechung der Massenpsychologie des Faschismus auf Seite 46, »drängt der lange verhohlene nationalsozialistische ›Untergrund‹, bestens konserviert und intergenerationell vermittelt, mit Macht ans Licht.« Dahmers Befund, wiewohl schon davor formuliert, sollte sich mitten in der Endproduktion dieser Ausgabe abermals bestätigen. Am Abend des 19. Februar ermordete ein rechtsextremer Terrorist im hessischen Hanau neun Menschen in einer Shisha-Bar und an einem Kiosk. Es war der dritte rechtsextreme Terrorakt in weniger als einem Jahr. Am Anschlag von Hanau materialisiert sich auf denkbar verheerendste Art das Versagen der CDU, wie es sich gegenwärtig in Thüringen in Anschau nehmen lässt. Wer die AfD auf eine Stufe mit der Linkspartei stellt, macht erstere zu einer »normalen« Partei. Wer für Positionen der extremen Rechten »Verständnis« zeigt, wo Ächtung angebracht wäre, hilft mit, rassistische Haltungen gesellschaftlich zu etablieren. Wer »linke« und rechte Gewalt gleichsetzt, bagatellisiert die latente Gefahr, welche von der gewalttätigen rechtsextremen Szene ausgeht. Schließlich ist der rechte Terror, dem – die Toten von Hanau miteingerechnet – seit der Wende 207 Menschen zum Opfer gefallen sind, auch das Ergebnis eines jahrzehntelangen Behördenversagens.
Der kühl kalkulierenden Experimentierfreudigkeit der bürgerlichen Mitte tut all das keinen Abbruch. Seinen Kollegen von der thüringischen CDU ließ Friedrich Merz schon ausrichten, dass eine Wahl Bodo Ramelows in Erfurt »die Glaubwürdigkeit der CDU in ganz Deutschland« beschädige. Den Querverbindern zur extremen Rechten aus den eigenen Reihen – von der Werteunion bis zum mittlerweile offen ins rechtsextreme Lager übergelaufenen Ex-Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen – begegnet er dagegen weniger streng, sie sind in der Union auch nach Hanau wohlgelitten. Es weht ein Hauch von Weimar über diesen Kontinent. Oder, um mit David Graeber (Seite 32) zu sprechen: »Vor uns liegen stürmische Jahre.«
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