Es entbehrt nicht einer gewissen traurigen Ironie, dass der Nachruf auf den Verfechter einer »public sociology« nicht in einer linken deutschen Tageszeitung unterzubringen war, weil ihn in der Redaktion niemand kannte. Michael Burawoy war ein 1947 geborener britischer Soziologe und emeritierter Professor in Berkeley, der für eine öffentliche Soziologie eintrat, die nicht nur aus den innerdisziplinären Diskussionen hinaus wirken, sondern die auch ihre eigene Wissensproduktion in der untersuchten Öffentlichkeit verorten sollte. In seinem Buch Public Sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit (2015) plädierte er für eine kritische Soziologie, die die »unumstrittenen Grundlagen der professionellen Soziologie – Werte, methodische und theoretische Voraussetzungen – offen(legt)« und sie problematisiert.
Es ging ihm darum, Gesellschaft nicht nur zu beobachten und zu beschreiben, sondern auch in sie einzugreifen. Das ist ein Anspruch, der nicht zufällig an jenen von Karl Marx und der Kritischen Theorie erinnert. Burawoy war Marxist und forschte zugleich empirisch, und das an verschiedenen Orten der Welt: in Sambia über Kupferminen und Rassismus, in Polen, Ungarn und Russland über Arbeitsverhältnisse und den Übergang zum Marktkapitalismus. In Südafrika führte er gemeinsam mit seinem Kollegen Karl von Holdt ausführliche Gespräche zur Sozialtheorie Pierre Bourdieus. In dem daraus entstandenen Buch Conversations with Bourdieu. The Johannisburg Moment (2012) konfrontiert er dessen Ansatz mit jenen von Antonio Gramsci, Frantz Fanon, Simone de Beauvoir und anderen, nicht zuletzt auch mit seinem eigenen.
Soziologischer Marxismus
Zwar betont er mit Gramsci und Bourdieu den konsensuellen Charakter moderner Herrschaft, die mit partieller Partizipation und unbewusster Akzeptanz viel stärker arbeitet als mit Repression. Zugleich aber ist er skeptisch gegenüber Bourdieus Begriff der »symbolischen Gewalt«: Zwar würden die Ursachen und Auswirkungen von Herrschaft immer mystifiziert und damit unsichtbar gemacht. Aber den institutionellen Bedingungen komme dabei ein viel größerer Stellenwert zu als den dispositionellen, die Mystifizierung werde also durch die politischen Apparate eher gewährleistet als, wie Bourdieu meinte, durch die verkörperten Haltungen.
Neben dieser analytischen Differenz unterscheidet Burawoy seine Position auch in politischer Hinsicht von seinen Vorläufern: Während er Bourdieu für zu pessimistisch hinsichtlich emanzipatorischen sozialen Wandels hielt, befand er Gramsci für zu optimistisch. Sein »soziologischer Marxismus« verstand sich demgegenüber als Theorie der widersprüchlichen Reproduktion kapitalistischer sozialer Beziehungen, in der die emanzipatorische Transformation weder für unmöglich noch für selbstverständlich gehalten wird.
Rolle der Zivilgesellschaft
Burawoy betrieb Soziologie von einem bestimmten Standpunkt aus, nämlich dem der Zivilgesellschaft, die er dem Staat und dem Markt entgegensetzte. Die Zivilgesellschaft verstand er dabei nicht als solidarische Einheit, sondern als »von Konflikten, Spaltungen und Marginalisierungen zerrissen«. Nichtsdestotrotz kann sie auch ein motivierender Faktor für eine öffentliche Soziologie sein. Das Anliegen der öffentlichen Soziologie sei es, »eine öffentliche Debatte über Fragen von öffentlichem Interesse, über die Ziele der Gesellschaft zu generieren«. Dieses öffentliche Interesse sah er unter Beschuss. Denn die Zivilgesellschaft wird gleichzeitig von Markt und Staat angegriffen: mittels Kommodifizierung des Alltagslebens einerseits und neuen Regulierungsmaßnahmen andererseits. Eine Analyse, die beim Verständnis des gegenwärtigen globalen politischen Geschehens im Zeitalter von Mileis Kettensäge, des Trump’schen Staatsstreichs und des rechtsextremistischen Antifeminismus durchaus hilfreich sein kann.
Die Frage »Soziologie – für wen?« beantwortete er mit einer doppelten Abkehr. Er distanzierte sich einerseits von dem, was er die professionelle, auf die Differenzierung ihrer Diskurse ausgerichteten Soziologie nannte, und andererseits von der einem bestimmten Klientel verpflichteten, angewandten Soziologie. Eine Sozialwissenschaft nach Burawoys Vorstellungen sollte für alle da sein. Nicht »eine Soziologie der Gesellschaft, sondern eine Soziologie in der Gesellschaft«. Dabei geht es darin immer auch um den Kampf gegen soziale Ungleichheit.
Gegen soziale Ungleichheit
Dass die soziale Ungleichheit ein globales Phänomen ist, das systematisch angegangen werden muss, davon war er überzeugt. Harsch kritisierte Burawoy in diesem Zusammenhang etwa den französischen Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty für sein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (2016). »Er hat keine Theorie der Politik«, schreibt Burawoy über Piketty, »keine Theorie des Staates, keine Theorie sozialer Bewegungen, keine Theorie der Kultur und vor allem keine Theorie des Kapitalismus«. All das reklamiert Burawoy im Umkehrschluss für seinen eigenen Ansatz. Und das mit einiger Plausibilität, insofern seine globale Soziologie am Lokalen ansetzt, aber auch den weltweiten Kapitalismus zum Gegenstand hat, die kulturelle Reproduktion fokussiert und zugleich den »Gedanken einer Alternative zum Kapitalismus« am Leben hält.
Michael Burawoy wurde am 3. Februar in seinem Wohnort Oakland, Kalifornien, von einem SUV überfahren, der Lenker bzw. die Lenkerin beging Fahrerflucht. Der Soziologe, der 77 Jahre alt wurde, war zuvor Präsident der American Sociological Association (2003–2004) und der International Sociological Association (2010–2014). Das Soziologie-Department der Universität Berkeley beschreibt ihn im Nachruf als einfühlsamen Mentor für den wissenschaftlichen Nachwuchs und als »intellektuellen Giganten«. Die Soziolog:innen Brigitte Aulenbacher und Klaus Dörre, Herausgeber:innen seines oben erwähnten, einzigen auf Deutsch erhältlichen Buches, loben ihn für den »Ausbruch aus Denkschablonen«.
In diesem Buch, Public Sociology, hatte Burawoy auch geschrieben, das Engagement der Soziologie müsse »maßvoll und bedächtig« sein. So wirkte er auch im E-Mail-Kontakt. Dass Burawoy im deutschen Sprachraum nicht so bekannt ist, wie er es verdient hätte, kann sich ja ändern. Und das sollte es auch.
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