Dann lieber Kärnten

von Karsten Krampitz

Illustration: Christoph Kleinstück

Gedanken zu Alzheimat und Exil, dem Kiezfaschismus der Zugezogenen und zum einzigen Antifaschisten in Kärnten: einer Linkskurve in Lambichl.


3634 wörter
~15 minuten

»Die Schönheit der Heimat preisen, ist zugleich ein wesentlicher Beitrag zur Erhaltung des Friedens.« Johannes R. Becher

»Die Heimat des Sklaven ist der Aufstand.«

Heiner Müller

»Die Heimat ist die Braut der Front.«

Das Evangelische Deutschland
(17. Jahr, Nr. 22, Berlin, 26. Mai 1940)

Um es gleich vorwegzunehmen: Heimat macht krank. Heimat lässt deine Haut eher altern. Heimat macht impotent; schadet den Menschen in deiner Umgebung. Und: Heimat ist tödlich. – Alles wahr. Und doch: Wohl dem, der eine hat. 

Ursprünglich unterscheidet das Wort die Ansässigen von denen, die keinen festen Wohnsitz haben. Heimat soll uns Halt geben, indem sie Grenzen setzt. Heimat ist aber immer auch ein politischer Begriff, selbst oder gerade bei Andreas Gabalier:

Vagiss die Heimat nie, mei Bua, ie woat auf die 

bis du wieda wieda kummst, zünd ie ah Liachtal aun fia die

vagiss die Heimat nie 

denk von Zeit zu Zeit an mie 

pfiati Gott, mei liaba Bua 

pass auf auf die

Ganz offensichtlich trägt Heimat zur Verblödung bei, die sich selbst reproduziert, an die folgende Generation weitergegeben wird. 

Eine feststehende Definition kennen wir nicht. Wikipedia spricht von einer Beziehung von Mensch und Raum (Territorium) und davon, dass der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch auf den Ort angewendet wird, in der ein Mensch hineingeboren wurde und »indem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen«.

Heimat ist ein metaphysisches Bedürfnis, so der Publizist Harry Pross, und wird es immer auch bleiben, »solange große Teile der Menschheit um ihren angestammten Aufenthalt bangen müssen und sich dahin zurücksehnen, woher sie kamen.« Bemerkenswert: In der Literatur, wo die Frage, woher komme ich, eine zentrale ist, taucht der Begriff Heimat eher selten auf, außer in der Heimatliteratur, in den Trivialschmökern. In der außerösterreichischen Pop-Musik und freilich auch im Rock, Punk etc. ist oft die Rede von der Flucht aus der Heimat: Man wächst heran und gleichzeitig heraus, entflieht der Enge des elterlichen Kaffs. 

Vielleicht erinnert sich noch jemand an Smalltown Boy von Bronski Beat: 

You leave in the morning with everything you own in a 

little black case

Alone on a platform, the wind and the rain on a sad 

and lonely face

Mother will never understand why you had to leave

But the answers you seek will never be found at home

The love that you need will never be found at home

Es folgt das Wichtigste:

Run away, turn away, run away, turn away, run away

Angeblich kann Heimat sehr viel sein: ein Bier, der Geruch nach frischem Heu, der Wörthersee. Aber eines ist Heimat ganz sicher nicht: ein Verdienst. Wenn Menschen also auf ihre Heimat stolz sind, ist das nicht unbedingt ein Ausweis intellektueller Stärke. 

Nebenwirkungen

Indem die Vorstellung von Heimat eine Gruppe von Menschen in einem bestimmten Territorium einschließt, schließt sie andere Menschen aus. Von daher ist die Vokabel immer mit Vorsicht zu verwenden: Heimat ist ein konterminierter Begriff, eng verwandt mit Wörtern wie Volk und Vaterland. Und wie die Nation, nicht zuletzt die österreichische, in Wahrheit eine »erfundene Gemeinschaft« ist (Benedict Anderson) und ganz sicher nicht das Ergebnis der »Platzanweisung Gottes« (so der Görlitzer Altbischof Fränkel 1999 im Interview), ist auch das allgemeine Verständnis von Heimat erst einmal nur eine Vorstellung, eine sehr alte Erfindung. 

Ob man nun dieses Wort den Rechten überlassen sollte, beispielsweise einer »sozialen Heimatpartei« FPÖ, darum wird heftig gestritten. Erst jüngst hat Thomas Ebermann die Polemik Linke Heimatliebe veröffentlicht. Darin fragt er: »Warum sollte man Begriffe, die zu den Rechten passen, wie die Faust des Nazis aufs Auge des Kommunisten, nicht ihnen überlassen? (…) Dass sich hinter Begriffen entschlüsselbare Sehnsüchte verbergen, ist zwar nicht belanglos, denn es erklärt, warum sie unter kapitalistischen Verhältnissen ständig reproduzierbar sind, ist aber kein Grund sie zu übernehmen, sondern einer, sie ihren Nutznießern um die Ohren zu hauen.« – Was in der Tat auch schon geschehen ist. Erinnern wir uns: vor 75 Jahren. 

Dass die Sowjetunion am 8. Mai 1945 als Sieger dastand, war eine Folge des »Vaterländischen Krieges«. Nicht die Treue zum Kommunismus, nicht der Kult um Stalin hat Millionen sowjetischer Menschen vier Jahre lang zum Kampf mobilisiert und auch kein Antifaschismus. Um 27 Millionen Opfer auszuhalten und weiterzukämpfen und die Deutschen in den Uniformen von Wehrmacht und SS aus dem Land zu treiben, brauchte es eines kollektiven Bewusstseins, einer sinnstiftenden Klammer: Das war zum einen der Hass gegen die Deutschen (wozu damals auch die Österreicher zählten) und zum anderen die Liebe zur Heimat, zur »Rodina«. 

Es ist also nicht unwichtig zu schauen, wer da gerade von welcher Heimat spricht. Ernst Bloch zum Beispiel. Das Prinzip Hoffnung – immerhin drei Bände – endet mit der Heimat als Ziel und Utopie: Hat der Mensch »das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«.

Ich

In meiner Kindheit kam mir das Wort Heimat aus den Ohren. Kurt Schwaens Kinder- beziehungsweise Pionierlied habe ich gefühlte Hundertmal gesungen: 

Unsre Heimat

Das sind nicht nur die Städte und Dörfer

Unsre Heimat 

sind auch all die Bäume im Wald

Unsre Heimat 

Ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld 

und die Vögel in der Luft …

Irgendwann kommt in dem Lied der Vers: »Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört«. Schon als Kind wurde das einem eingetrichtert: Junge, deine Heimat muss geschützt werden! Und vor wem? Antwort: Vor dem Reich des Bösen, der BRD, den amerikanischen Imperialisten. 

Thomas Ebermann macht sich in seinem Schmöker ausgiebig lustig über den Heimatkult in der Ostzone – zu Recht. Im Kapitel »Ein Kessel Braunes: der Fall DDR« sinniert der Ex-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vertreter der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen über die »seltsame, bizarre, erschreckende Schlacht«, die zwischen beiden deutschen Staaten von Beginn ihrer Existenz tobte. Dass der Heimatkult in der DDR eine Reaktion auf die Fluchtbewegung war, kommt Ebermann nicht in den Sinn. Wir reden hier von einer Massenflucht. Während 1951 rund 166.000 Menschen die Republik in Richtung Westen verließen, waren es 1952 sogar 182.000 Flüchtlinge. Das, obwohl die SED-Führung in Absprache mit der sowjetischen Besatzungsmacht am 26. Mai 1952 die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR hatte abriegeln lassen. Eine fünf Kilometer breite Sperrzone mit Stacheldraht war geschaffen worden, so dass als einzige offene Fluchtmöglichkeit aus der Heimat nur noch Westberlin geblieben war. Doch der Exodus nahm kein Ende. Allein im März 1953 wurden 59.000 Flüchtlinge registriert. Ohne den Mauerbau in Berlin im August 1961 hätte dieser Staat schon damals nicht überlebt. Dem DDR-Heimatgedöns ging es darum, Menschen einzuschließen, nicht wie heute: Menschen auszuschließen. All das aber ist lange her …

Meine Heimat existiert nicht mehr. Das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, ist abgerissen. Den Kindergarten gibt es nicht mehr, auch nicht das Internat, indem ich aufgewachsen bin, die Schule trägt heute einen anderen Namen, ebenso viele Straßen und Plätze. Die Radiosender gibt es nicht mehr, ebenso das Fernsehen. Mein Vater lebt noch, aber er hat Demenz. Und ganz ehrlich: Ich bin froh, dass ich da irgendwie heil rausgekommen bin. Um diese Heimat ist es nicht schade, um die Enge, die Fahnenappelle, die Dresche der Eltern. 

Ich lebe in Berlin, in dem Teil der Stadt, der schon immer Hauptstadt war, im Ortsteil Prenzlauer Berg. Ich wohne gerne hier, aber ich kann nicht sagen, dass Berlin meine Heimat ist. 

Als Indigener in Berlin

Wir wollen festhalten: Der Kiezfaschismus geht immer von den Zugezogenen aus. Als neulich wieder einmal des Nachts eine Armada von Rollkoffern lärmend unter unserem Fenster vorbeizog, rief im Nebenhaus jemand raus auf die Straße: »Scherts Euch weg! Geht’s hoam!« – Eine solche verbale Entgleisung ist eines Berliners unwürdig. Zu unserem Wesen gehört die Ignoranz, auch wenn es schwerfällt. Als hier Aufgewachsener habe ich erstmal keine Probleme mit Touristen. Und wie mir geht es auch anderen Indigenen in Prenzlauer Berg. Hin und wieder treffe ich welche beim Einkaufen oder auf der Straße, und jedes Mal ist die Freude groß. Einige haben einen alten Mietvertrag, andere einen guten Job oder sie leben wie ich in einer gemischten Beziehung. Meine Liebste kommt aus Laufenburg. Das alemannische Städtchen am Rande des Hotzenwalds wurde von Napoleon willkürlich geteilt. Lange her: Die »mehrere Stadt« wurde 1801 im sogenannten Frieden von Lunéville der Schweiz zugeschlagen, während die »mindere Stadt« bis heute zu Deutschland gehört. Einmal im Jahr zur Fastnacht treffen sich die Bewohner beider Stadthälften, frönen gemeinsam in exzessiver Weise dem Alkohol und gehen tags darauf wieder getrennte Wege. Das hätte auch ein Modell für Berlin sein können – hätte. 

Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Teilungserfahrung zeigt sich die Familie meiner Frau bei ihren Berlinbesuchen immer sehr interessiert an der Lebenswelt der indigenen Bevölkerung. Und was soll ich sagen? Es wird eng; die Einschläge kommen näher. In unserer Straße betreibt das berühmte, das legendäre St. Oberholz-Café eine Dependance. Einmal habe ich aus Versehen dort in meiner Muttersprache einen Kaffee bestellt. Aber das war kein Problem. Es gibt immer Gäste, die übersetzen. Und es stört mich überhaupt nicht, wenn mich Menschen wie selbstverständlich auf Englisch ansprechen. Wenn ich nach New York fahre, werde ich froh sein, wenn die Leute auf Deutsch mit mir reden. Mittlerweile gibt es bei uns Kinos, in denen nur noch Englisch gesprochen wird, selbst an der Kasse. Das Kino in der Kulturbrauerei zum Beispiel, wo man sich entscheiden kann, den gleichen Film zur gleichen Zeit mit oder ohne Untertitel zu sehen, also »OV« oder »OmU«. 

Gänzlich anders verhält sich die Sache in der Kneipe bei mir im Haus. Hier wird, wenn nicht gerade Corona ausgebrochen ist, Spanisch gesprochen. Das »Tres Passers« gehört der hiesigen Latino-Community. Carlos, der Wirt, ist zur Hälfte Ossi und Guatemalteke. Auch das hat’s gegeben. Unlängst habe ich ihn zu fortgeschrittener Stunde am Tresen gefragt, wie er sich verhalten hätte, wenn im Fußball-WM-Finale die DDR auf Guatemala getroffen wäre. »Für welche Mannschaft wärst du gewesen?« Er wusste es nicht. Im Internet wirbt Carlos mit »auténticos tamales negros, paches, tamales colorados y chuchitos chapines«, und das ist schon eine feine Sache, wie die Mischpoke meiner Liebsten bestätigen wird. 

Aber Heimat? Ich bin hier zu Hause. 

Ich kenne auch niemanden, der stolz auf Berlin ist. Worauf auch? Vielleicht auf den neuen Flughafen? Mag sein: Wir haben zwei Fußballmannschaften in der 1. Bundesliga, aber keine in der Champions League. Die Fans von Union und Hertha sind auch lange nicht so verfeindet wie etwa in Hamburg die vom HSV und St. Pauli, was historisch begründet ist. In den Jahren der Teilung der Stadt sympathisierten viele Union-Fans immer auch mit der Hertha, die einmal sogar in Dresden spielte, wo es dann zur biergetränkten Verbrüderung von Union- und Hertha-Fans kam. Legendär die Momente, wenn Union einen Freistoß bekam und Hunderte im Stadion brüllten: »Die Mauer muss weg!« 

Es soll ja ganze Liederbücher über Berlin geben; in keinem aber, so vermute ich, ist da irgendwer »stolz« auf Berlin. Es gibt die Kreuzberger Nächte der Gebrüder Blattschuss und auch das wunderbare Berlin tut weh von
Reinhard Mey: 

Fast alle meine Freunde sind gegangen.

Gewiss, manchmal verstehe ich sie gut.

Ich habe nur zu sehr an dir gehangen,

Mit meiner Trauer und mit meiner Wut.

Wie oft verlasse ich dich in Gedanken

Und komm’ kleinlaut zurück, bevor ich geh!

So stiehlt man sich nicht vom Bett eines Kranken,

Du tust mir weh.

Du tust mir weh.

Berlin ist nicht meine Heimat. Berlin ist mein Asyl. Und ein bisschen geht es mir wie Reinhard Mey: Wo immer ich auch hingehe, trage ich einen Splitter von Berlin in meinem Herzen. So war das auch, als ich in Klagenfurt gelebt und gearbeitet habe, als Ossi unter Ösis. Lange her.

Stadtschreiber in Klagenfurt, DDR

Das kam so: Einmal im Jahr hat die deutschsprachige Literatur ihre Tage (das ist ein Witz von Werner Kofler, den ich sehr mag). Beim Bachmann-Wettlesen 2009 war ich mit einem blauen Auge davongekommen und noch dazu mit einem Scheck von 7.000 Euro für den Publikumspreis, von dem sich ein paar Monate später herausstellte, dass da zusätzlich noch das Stadtschreiber-Stipendium dranhing: fünf Monate jeweils 1.200 Euro! 

So zog ich denn 2010 Anfang Mai ins Schriftsteller-Atelier, unterm Dach des Klagenfurter Europahauses, und erlebte so etwas wie ein Déjà-vu. Angekommen in Kärnten, nahmen heimatliche Gefühle von mir Besitz …

Dass man der verstorbenen politischen Führer in Museen gedenkt, kannte ich nur aus der DDR. Ernst Thälmann war von den Nazis ermordet worden, die Täter wurden nie gefasst – wie auch beim angeblich verunglückten Landeshauptmann. Gleich in der ersten Woche besuchte ich die Jörg-Haider-Ausstellung im alten Bergbau-Museum und ließ das Gästebuch mitgehen, um es in der Wiener Literaturzeitschrift Volltext zu rezensieren. Für mich war das praktisch eine Novelle. Die unerhörte Begebenheit war schnell erzählt: In einer kalten Oktobernacht kommt der Landesvater vom rechten Weg ab. Mindestens 120 Erzählstimmen berichten davon, und ganz offensichtlich war der einzige Antifaschist in Kärnten eine Linkskurve in Lambichl. Mit Recht fragte ich als Literaturexperte, wer das alles lesen soll? (Wer mehr dazu wissen will, einfach googeln.)

Bei uns in Berlin wäre so ein Diebstahl als kleiner Unfug durchgegangen, ohnehin darf man in Deutschland als Kritiker Rezensionsexemplare behalten. In Klagenfurt aber war das ein Skandal allererster Kajüte! Auch das erinnerte mich an die DDR, wo man als Einzelner sehr viel Unruhe stiften konnte, mit einem Verhalten, das nicht konform war. 

Ich will das Kärnten im Jahr 2010 nicht gleichsetzen mit dem SED-Staat. Zur Erkenntnisgewinnung aber lohnt die Gegenüberstellung: 

Wie bei uns in den 1980er Jahren, hat es dort eine Staatspartei gegeben, die das Land als ihr Eigentum betrachtete: die FPK, die Freiheitlichen in Kärnten, was im Kürzel eigentlich hätte FiK heißen müssen, aber lassen wir das. Mit ihren Komplizen von der ÖVP – wenn man so will, war das die »Blockpartei« – dominierte die FPK den Kärntner Landtag und besaß in der Landesregierung mit vier von sieben Mitgliedern die absolute Mehrheit. Eine Machtfülle, wie sie in der DDR auch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hatte, die wie die FPK nie auf einem Wahlzettel stand, jedenfalls zu keiner freien Wahl. Und wie die SED schöpfte auch die Kärntner FPK ihre Herrschaftslegitimation zum großen Teil aus der Geschichte. War es in der DDR der große Blutzoll, den Kommunisten im Dritten Reich gezahlt hatten, der ihnen jetzt das Recht verlieh, die Macht auszuüben, war es in Kärnten der ständige Verweis auf den verunglückten Landeshauptmann Jörg Haider und die Erinnerung an den Abwehrkampf der Jahre 1918 bis 1920. – In der DDR hatten im Verlaufe der Jahrzehnte Feiertage die politischen Ziele ersetzt. Der 7. Oktober, der Republik-Geburtstag, war Jahr für Jahr ein Riesenerfolg! Ähnlich verhielt es sich in Kärnten mit dem 10. Oktober, dem Tag der berühmten Volksabstimmung 1920, als darüber entschieden worden war, ob Teile des Landes zur neuen Republik Österreich oder zu Jugoslawien gehören. 

Die Freiheitlichen bezogen – wie die SED – ihre Legitimation von einer höheren Macht, dem unaufhaltbaren Gang der Geschichte. Der Satz respektive die Parole »Wir passen auf dein Kärnten auf. Garantiert.«, damals noch als BZÖ, trug einen Hauch von Gottesgnadentum in sich. Und wer von ganz oben, vom heiligen Jörgl beauftragt war, der hatte eine irdische Wahl nicht nötig … 

In ihrer Erinnerungspolitik glichen sich FPK und SED sehr: Wie Kärnten war auch die DDR mit Blick auf die Hitler-Diktatur nicht das Land der Täter. Die Menschen waren 1945 befreit worden, nicht besiegt. Nur dass der SED-Staat die wirklichen Opfer der NS-Zeit (zumindest in den 1980er Jahren) nicht derart beleidigt hat wie in Kärnten die freiheitliche Regierung. Angenommen, bei uns in Brandenburg hätten die Sorben als Partisanen gegen die Wehrmacht gekämpft: Diese kleine Volksgruppe wäre mit Ehrungen überhäuft worden – ihre Dörfer wären freilich trotzdem plattgemacht worden, zwecks Braunkohlegewinnung. Und selbstredend wäre so etwas wie das Ulrichsbergtreffen oder auch der alljährliche Aufmarsch von Neonazis in Bleiburg in der DDR undenkbar gewesen, was aber nicht heißen soll, dass es bei uns keine Nazis gab. 

Und wie in der DDR gab es in Kärnten anno 2010 Aufmärsche der werktätigen Massen, sollte der Staatsführung zugejubelt und gehuldigt werden. Auf dem FPK-Parteitag fand, wie ehedem bei der SED, keine Debatte statt, und schon gar kein Flügelkampf. Das Treffen der blauen Delegierten war eine PR-Veranstaltung, die einer bestimmten Choreografie folgte und allein der öffentlichen Akklamation vorher festgelegter Beschlüsse diente. 

Staatstragend wie in der DDR waren in Kärnten auch die Zeitungen: Wenn ich mit den Redakteuren darüber sprach, merkte ich, wie sie bestimmte Vorgaben verinnerlicht hatten. Kritik an der Landesregierung oder auch am FPK-Bürgermeister wurde nur verhalten formuliert, waren doch Stadt- und Landesregierung die wichtigsten Anzeigenkunden. Diese Subvention zu verlieren, konnte sich offenbar kein Blatt leisten. – Nun: Nichts ist langweiliger als eine sich selbst zensierende Provinzpresse. Dabei waren die Missstände damals offensichtlich. Der völlig unsinnige Stadionbau in Klagenfurt zum Beispiel; der Betrug beim Verkauf der Hypo Alpe Adria Bank – zu beiden Themen dauerte es lange Zeit bis auch Kärntner Journalisten bereit oder in der Lage waren, ihren Job zu erledigen.

Stillstand

Nach dem Unfalltod Haiders hatte sein Stellvertreter und Nachfolger Gerhard Dörfler noch gesagt, dass alle Uhren »stehen geblieben« seien. Zumindest beim Thema Gleichstellung galt das schon viel länger: 

Wie im SED-Politbüro des letzten Jahrhunderts, so hatten auch in der Führung der Freiheitlichen in Kärnten Frauen nichts zu bestellen. Unter den vier FPK-Mitgliedern der Dörfler-Regierung (damals noch Proporz, also mit zwei SPÖ- und einem ÖVP-Vertreter) befand sich nicht eine Frau. Von den vier blauen Stadträten in Klagenfurt, einschließlich Bürgermeister, gab es 2010 mit der Jugendstadträtin Christine Jeremias wenigstens für kurze Zeit eine Frau, die dann aber noch vor der nächsten Wahl durch einen Mann ersetzt wurde. Im Unterschied zur SED machten sich die Freiheitlichen nicht einmal die Mühe, so zu tun, als ob Frauen in ihren Reihen gleichberechtigt wären. 

Bemerkenswert auch: Die DDR und Kärnten wurden beide von Männern regiert, die nicht studiert hatten und eher schlichten Gemüts waren. Nur hatte Honecker für seine Überzeugungen unter den Nazis zehn Jahre im Zuchthaus gesessen, während Gerhard Dörfler nicht einen Tag im Gefängnis war, gleichwohl er wegen Untreue und Vorteilsnahme verurteilt wurde. (Überhaupt: Honecker war kein Idiot.) 

Besonders ähnlich aber waren sich Kärnten und die DDR im Widerspruch von Geist und Macht. Wobei sich die SED, was man ihr zugutehalten muss, noch um die Künstler und Intellektuellen bemühte (erinnern wir uns, am 17. Juni 1953 protestierten nur die Arbeiter), während die FPK ihre Intellektuellenfeindlichkeit geradezu auslebte. In Kärnten hatte unter Haider und seinen Epigonen die Niedertrachtenkultur ihre Blüte erlebt, während der freien Szene das Wasser abgegraben war. Aber wie schon in der DDR war in den kleineren Theatern und in der Literatur eine kritische Öffentlichkeit entstanden. Ich lernte großartige Künstler kennen: Schauspieler und Regisseure vom Klagenfurter Ensemble, die Bildhauerin Bela Ban, den Lyriker Fabjan Hafner und viele andere. Und wie in der DDR erlebte ich, dass Menschen, die einander brauchen, anders miteinander umgehen. Leider nicht immer und auch nicht überall. Vor einigen Jahren schied Fabjan freiwillig aus dem Leben. 

Heimatkult

Was mich in Klagenfurt aber geradezu überwältigt hat, war dieser alles andere überlagernde Heimatkult. Das war SED-Staat pur: Das freiheitliche »Unser Kärnten« hatte einen ähnlichen Sound wie »Unsere DDR«. Dass auf jedem dritten FPK- oder Regierungsplakat glückliche Kinder zu sehen waren, erinnerte mich an die DDR-Wahlen zur »Nationalen Front«. Bei Horkheimer habe ich mal gelesen, dass zur Inszenierung von Macht immer auch lachende Kinder gehören. Schon Jesus sagt: »Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen.« (Mt 18,3) Habt nur Vertrauen in die Politik eurer Führer und ihr werdet selig. 

Und immer wieder wurde die Gemeinschaft beschworen, die Liebe zum Land – und natürlich auch die Gefahr, die der Heimat drohte. In der DDR waren das die NATO, die westdeutschen Imperialisten, in Kärnten waren das eben alle, die Kärnten nicht liebten, die »Linkslinken«, die Wiener, die Tschetschenen. Ideologien haben immer eine beschränkte Reichweite, sei es die deutschnationale oder die kommunistische. Nicht jeder mag sich damit identifizieren. Hilfe bietet das Konzept Heimat, bei dem die Leute besser andocken können. Wer will schon was gegen die Heimat sagen? Niemand wählt Politiker, die ihre Heimat hassen. 

Heimatliebe aber ist und bleibt falsches Bewusstsein. Besser man liebt einen Menschen oder gutes Essen. Von Letzterem gibt es in Kärnten reichlich. Ansonsten ist es ratsam, beim Thema Heimat den Ball flachzuhalten. Denn es gilt wie schon bei Marx: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« Eines Tages war meine Heimat DDR einfach fort. Und nach der Heimat kam das Vaterland, »Deutschland, Deutschland über alles«. Dann lieber Kärnten.

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