Europäische Solidarität ist eine Drohung

von Lisa Mittendrein

Illustration: Christoph Kleinstück

Im Kampf gegen das Coronavirus wird erneut der Zusammenhalt in Europa beschworen. Doch wo die EU zuletzt Handlungsfähigkeit bewies, waren Not und Elend die Folge.


364 wörter
~2 minuten

In Italien bricht die Epidemie aus. Hunderte sterben täglich, das Gesundheitssystem kollabiert, verzweifelte Ärztinnen senden Hilferufe in die Welt. Wie reagiert die Europäische Union? Werden medizinisches Personal und Hilfslieferungen vom ganzen Kontinent nach Italien geschickt? Nein. Die ersten Staaten, die Hilfe leisten, sind China und Kuba. 

Heute, mehrere Wochen später, gibt es erste europäische Maßnahmen. Die Schuldenregeln werden ausgesetzt, die Europäische Zentralbank stützt Unternehmen und Staatsanleihen, die Mitgliedsstaaten verhandeln über Corona-Bonds. All das kommt spät und wirkt schwach.

Quer über den Kontinent beklagen politische Kommentatoren die fehlende Handlungsfähigkeit der EU: »Wo bleibt die europäische Solidarität?« Doch die gut gemeinte Frage klingt für viele wie eine Drohung. Wo die EU zuletzt Handlungsfähigkeit bewies, waren Not und Elend die Folge. Das gilt an den Außengrenzen, die die EU heute brutaler abschottet als je zuvor. Und es gilt für Millionen Menschen in Südeuropa, die direkt zu spüren bekamen, was europäische Handlungsfähigkeit in einer Krise anrichten kann. Schon in der Eurokrise, die als Finanzkrise begann, war die Misere eines einzelnen Landes kein Anlass für Solidarität. Erst als die griechische Krise die deutschen und französischen Banken bedrohte, entschieden sich die europäischen Eliten zu handeln. Mit den Kreditprogrammen retteten sie mächtige Gläubiger und bauten Griechenland radikal um. Unter dem Druck der Troika senkten griechische Regierungen die Mindestlöhne, zerschlugen Gewerkschaften, kürzten Pensionen, verscherbelten Flughäfen und sperrten Teile des Gesundheitssystems einfach zu. Bis vor wenigen Wochen inspirierten diese Maßnahmen noch Konzernchefs und neoliberale Ideologen in ganz Europa. Auf Griechenland folgten Portugal, Spanien, Irland. Und dann alle anderen EU-Länder. Mit Hilfe verschärfter Schuldenregeln, eines komplizierten EU-Regelwerks und der Ideologie der schwarzen Null höhlten die Regierenden Arbeitsrecht und Sozialsysteme aus. Die europäischen Eliten hatten die Krise ideal genutzt, um die Wirtschaften und Gesellschaften der gesamten Union noch stärker Profitinteressen zu unterwerfen.

Genau daran sollte man denken, wenn von europäischer Handlungsfähigkeit gesprochen wird. Die gutmeinenden Kommentatoren verkennen, was die Europäische Union ist. Sie ist keine Solidarunion, sondern ein Projekt des schrankenlosen Handels und der neoliberalen wirtschaftlichen Integration.

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