Auf zum grünen Festungskapitalismus

von Lukas Oberndorfer

Illustration: Christoph Kleinstück

Die EU-Pläne für einen umfassenden »grünen« Wiederaufbauplan zur Bewältigung der Corona-Krise werfen eine zentrale Frage auf: Erleben wir gerade das Ende oder die Erneuerung des Neoliberalismus?


1996 wörter
~8 minuten

Was am 18. Mai 2020 geschah, galt bis zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte der europäischen Integration als undenkbar. Angela Merkel und Emmanuel Macron traten nach einer Unterredung vor die Kameras und sprachen sich für einen Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der durch Covid-19 ausgelösten Wirtschaftskrise in der Höhe von 500 Milliarden Euro aus, der durch eine begrenzte europäische Verschuldung ermöglicht werden soll. Finanziert werden solle damit allen voran der ökologische und digitale Wandel.

Den deutsch-französischen Steilpass nahm die Europäische Kommission Ende Mai an und legte einen bis auf die Höhe (750 Milliarden Euro) weitgehend deckungsgleichen Vorschlag für einen Aufbauplan vor. 500 Milliarden sollen über das EU-Budget im Rahmen des kommenden mehrjährigen Finanzrahmens (2021–27) in Form von Zuschüssen verteilt werden, 250 Milliarden in Form von Krediten ergehen.

2012 klang die deutsche Bundeskanzlerin noch anders: Eine gemeinsame europäische Verschuldung – oft auch unter dem Begriff Eurobonds diskutiert – werde es »solange ich lebe« nicht geben. Dahinter steht ein neoliberales Dogma, das sich nirgendwo so stark verankern konnte wie in der Europäischen Union und ihren Verträgen.

Neoliberale Neupositionierung

In der euphorischen Phase der neoliberalen Globalisierung waren es die Mitgliedstaaten der EU selbst, die sich politische Handlungsspielräume nahmen. Der von ihnen beschlossene Vertrag von Maastricht enthielt nämlich nicht nur strenge Defizitregeln, sondern verbot jegliche Form der öffentlichen Refinanzierung. Seither dürfen sich die Mitgliedstaaten weder bei Notenbanken (einschließlich der EZB), anderen EU-Staaten oder der Union Geld ausborgen oder füreinander haften. 

Ziel dieser Bestimmungen sei es, so der Europarechtler Ulrich Häde, die »Mitgliedstaaten den Marktkräften auszusetzen«. Die Finanzmärkte sollten die öffentliche Hand durch steigende Zinsen auf Staatsanleihen abstrafen, wenn diese zum Beispiel zu viel für ihre Sozial- oder Gesundheitssysteme ausgeben. Der Politikwissenschafter Stephen Gill hat diese rechtliche Versteinerung wirtschaftspolitischer Ideologie treffend als neuen beziehungsweise neoliberalen Konstitutionalismus bezeichnet. Das gilt umso mehr, als die EU-Verträge sogar über nationalem Verfassungsrecht stehen und nur schwer – unter anderem durch die Zustimmung aller Mitgliedstaaten – zu ändern sind.

Der Umstand, dass sich die Mitgliedstaaten diese neoliberale Verfassung selbst gegeben haben und die kapitalistische Politik, die in der letzten und der gegenwärtigen Krise alle rechtlichen Regeln beiseite räumt, um Banken und (fossile) Konzerne wie die AUA mit Milliarden zu retten, wirft aber die Frage auf, wer hier der Marktlogik unterworfen werden soll?

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