Die Kultur der Ablehnung

von Benjamin Opratko

Illustration: Christoph Kleinstück

Nicht erst seit Corona greift eine Sicht auf die Welt um sich, die eine Haltung der Ablehnung in sich trägt. Woher sie kommt und was sie uns zu sagen hat.


3193 wörter
~13 minuten

Bis in die 1980er Jahre hinein nahmen Bergarbeiter Kanarienvögel in die Schächte der englischen Kohlenminen mit, um sich vor einer Kohlenmonoxid-Vergiftung zu schützen. Die Tiere reagieren besonders sensibel auf das unsichtbare und geruchlose Gas. Fällt der Vogel um, bedeutet dies Gefahr. 

Im Zuge der ersten Corona-Welle meldeten sich fast täglich Prominente zu Wort, die in den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine Verschwörung dunkler Mächte zu erkennen glaubten. Pop-Sänger und TV-Moderatorinnen, Fernsehköche und Schauspielerinnen, Youtuber und andere Influencerinnen erfanden sich als »Corona-Rebellen« neu, verbreiteten Unsinn über Mobilfunknetze als Krankheitsüberträger, die WTO als geheime Weltregierung, unwissentlich verpflanzte Mikrochips. Der deutsche Boulevard ging der Frage nach, warum so viele »seiner« Promis »durchdrehen« – und suchte die Antworten in Geltungssucht, Isolationskoller oder Xavier Naidoos exzessivem Marihuanakonsum. Ein weiterer Beweis, dass es eben doch dumme Fragen gibt. Was sie als Personen antreibt, mag für die Klatschpresse relevant scheinen; interessant wird das Ganze, wenn wir uns die Gaukler und Barden als Kanarienvögel denken. Sie mögen in normalen Zeiten singen oder für ihr farbenfrohes Kleid bewundert werden; von gesellschaftlichem Nutzen sind sie dann, wenn sie umfallen: Sie zeigen uns in den Katakomben der kapitalistischen Kulturindustrie eine Veränderung in der gesellschaftlichen Atmosphäre an.

Autoritätskrise

Im Windschatten des paranoiden, bisweilen antisemitisch unterlegten Wahns geht ein Raunen durch die Gesellschaften, das sich mit der Kategorie der Verschwörungstheorie nicht einfangen lässt. Es ergreift, um eine hilflose Metapher zu bemühen, das Oben, das Unten und die Mitte gleichermaßen. Intellektuelle, die den Mund-Nasen-Schutz in fein gedrechselten Essays zur »Sklavenmaske« erklären ebenso wie meinen Nachbarn in Wien 15, der seine Familie in Bosnien nicht besuchen darf und meint, dass da »was nicht stimmt«, was uns Regierung und Medien erzählen. Dazwischen wütende Gastronominnen, verzweifelte Ladenbesitzer, renegierende Mediziner. Es ist eine zum Klischee verkommene Wahrheit, dass die Corona-Krise lange im Dunkeln liegende Widersprüche zum Vorschein bringt. Auch die angeblich plötzliche, rasende Verbreitung des »Irrationalen« im Angesicht des Virus – so der Frankfurter Philosoph Rainer Forst – ist nicht einfach Bruch der Normalität, sondern Kipppunkt in einem inkrementellen Prozess. Wer ihren Anfang im Beginn der Corona-Krise vermutet, irrt. Tatsächlich bricht sich gerade Bahn, was seit Jahren in unseren Gesellschaften als Alltagsideologie schwelt: die Ablösung ganzer Gesellschaftsschichten von den bislang das Soziale ordnenden, Orientierung bietenden Institutionen und Erzählungen. Der italienische Marxist Antonio Gramsci beschrieb ähnliche Prozesse in den 1930er Jahren als »Autoritätskrise«: Sie bestünde darin, dass »die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw.«. Was er unter dem Gesichtspunkt der Herrschenden, die den Konsens der Beherrschten verlieren, analysierte, hat seine Entsprechung im Volk als eine Alltagskultur, die den Autoritäten die Gefolgschaft aufkündigt. Diese lässt sich heute als Ablehnungskultur beschreiben: als eine Sicht auf die Welt, die eine Haltung der Ablehnung in sich trägt.

»FÜR GAR NICHT WENIGE MENSCHEN TRITT DER STAAT PERMANENT ›IN DIE MITTE DES LEBENS‹: DURCH RASSISTISCHE POLIZEIKONTROLLEN ETWA, IN FORM VON MASSENLAGERN,  AUFENTHALTSTITELN ODER ABSCHIEBEBESCHEIDEN, DURCH EINSCHRÄNKUNGEN BEI EHESCHLIESSUNGEN ODER IM ADOPTIONSRECHT FÜR GLEICHGESCHLECHTLICH LIEBENDE ODER ALS ARBEITSMARKTSERVICE.«

In meiner wissenschaftlichen Arbeit, im Verbund mit Sozial- und Kulturforscherinnen aus fünf europäischen Ländern, untersuche ich seit eineinhalb Jahren solche Alltagskulturen der Ablehnung unter Beschäftigten in Sektoren, die sich in den letzten Monaten als »systemrelevant« erwiesen haben: Arbeiterinnen und Angestellte im Einzelhandel und in Logistikbetrieben. Wir stießen, lange bevor von Corona die Rede war, auf tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Parteien, Medien, Staat und Wissenschaft. Viele unserer Gesprächspartner beschreiben ihren Arbeitsalltag und die Bedingungen, unter denen sie tätig sind, als Naturgewalt oder einer göttlichen Ordnung gleich. Darin gelte es, für sich das Beste rauszuholen und Nischen der Selbstverwirklichung zu schaffen – und sei es nur, um im Warenlager die Stimmung hochzuhalten, wenn die verordneten Überstunden sich immer länger anfühlen. Sie finden sich in einer kulturellen Zwickmühle wieder. Sie gehen am Arbeitsplatz normierten und überwachten Tätigkeiten nach und erfahren, dass sie jederzeit ersetzbar sind, austauschbare Gelenke in einer unüberschaubaren Abfolge ineinandergreifender logistischer Abläufe. Doch die politisch-ideologischen Überbauten bieten ihnen keinen Raum zur Verarbeitung und Übersetzung dieser Erfahrungen. Das Identitätsangebot als stolzer Arbeiter, als stolze Arbeiterin wurde von der Sozialdemokratie längst entsorgt. Kulturindustriell und parteipolitisch werden sie als kreative Selbstverwirklicherinnen angesprochen, lebenslange Lerner, einzigartig individuelle Unternehmerinnen ihrer selbst. Doch die ökonomische Basis gibt das nicht her. In dieser Lücke erwächst nicht so sehr Widerstand oder Solidarität, sondern Rückzug ins Private und Ablehnung des Öffentlichen. In unseren Interviews äußern Arbeiterinnen ihre Abscheu gegenüber der Politik als solcher, sie erscheint ihnen als ein Paralleluniversum, das mit ihrer Lebensrealität nichts zu tun hat und von der sie möglichst unbehelligt bleiben wollen. Nicht ohne Grund nehmen sie Politik, wenn überhaupt, dann überwiegend als etwas wahr, das ihnen das Leben schwerer und die Arbeit länger macht. Die soziale Welt kontrahiert auf die Kleinfamilie oder enge Freundeskreise. Nicht selten bleibt als politische Haltung nur die vehemente Ablehnung jener, die scheinbar die Früchte der gesellschaftlichen Arbeit genießen, ohne sich selbst den Zumutungen dieser Arbeit zu unterwerfen: Asylwerberinnen, Arbeitslose, Schmarotzer. Was aus dieser Dynamik mehr und etwas anderes macht als den üblichen Alltagsrassismus und Sozialchauvinismus, ist, dass sie sich mit der schon von Gramsci beschriebenen Ablösung und Ablehnung der Autoritäten verbindet. Das betrifft keineswegs allein die Politik, sondern tendenziell alle Institutionen, deren gesellschaftliche Funktionen darin bestehen, faktisches Wissen und moralische Urteile so aufzubereiten, dass sie für Laien verständlich und nachvollziehbar werden. Schulen und Medien, Universitäten und Verlage, Rundfunk und öffentliche Verwaltung wirken in modernen, kapitalistischen Gesellschaften als Kuratorinnen und Vermittlerinnen von Wissen und Moral. In einem Prozess, der noch nicht ausreichend verstanden wird, weisen Teile des Volkes diesen Anspruch gerade zurück. Sie »glauben nicht mehr, woran sie vorher geglaubt haben«. Auch und gerade dort, wo im Namen höchster Objektivität gesprochen wird, nämlich von wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, glauben sie nicht mehr. Was lange als Marotten schräger Minderheiten erschien – Impfgegner, Chemtrails, Flacherde, die Leugnung der Klimaerhitzung –, entpuppt sich gerade im Rückblick als Hinweis auf eine schleichende Veränderung der gesellschaftlichen Atmosphäre. Sie wurde genutzt und geschürt von »populistischen« politischen Akteuren. (Geradezu genial von der rechten Pro-Brexit-Kampagne, als der harte Brexiteer Michael Gove erklärte, dass die »Menschen in diesem Land genug von den Experten« hätten.) Es wäre aber falsch, die Elemente der Autoritätskrise auf das Wirken böser »Populisten« zurückzuführen – eher ist der Aufstieg jener als Effekt dieses Prozesses zu begreifen.

Staatliche Eingriffe

Nicht zu Unrecht konstatiert Alexander Brentler in einem Beitrag für die Webseite des deutschen Jacobin Magazin, dass es Klassenerfahrungen sind, die den Nährboden für die grassierenden Corona-Verschwörungstheorien bilden: »In einer Welt, in der alle ökonomisch auf sich gestellt sind, wird es den Menschen zunehmend fremd, in Fragen des gesicherten Wissens auf das Fachpersonal ihrer Gesellschaft zu vertrauen. Wer daran gewöhnt ist, stets eigenbrötlerisch an seiner Selbstverwirklichung zu arbeiten, wird irgendwann auch die Konstruktion der Wahrheit gänzlich für sich selbst beanspruchen.« Elementen dieses Selbst- und Weltbilds begegnen wir in unseren Gesprächen immer wieder. Doch für sich genommen ist die Erklärung nicht ausreichend. Das Raunen ergreift schließlich nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich, in diesem Sinn entfremdete Arbeiterinnen und Arbeiter. Auf den »Hygienedemos« in Deutschland und Protestkundgebungen gegen den »Corona-Wahnsinn« in Österreich, bei den Anti-Lockdown-Rallys in den USA oder in »Corona-skeptischen« Social-Media-Gruppen sammeln sich vor allem Angehörige der mittleren und auch der oberen Klassen. Und nicht zuletzt befeuern Philosophen und Künstler die Ablehnungskultur angesichts der Pandemiemaßnahmen als

»Ressentimentmenschen«, wie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey jüngst in einem lesenswerten Beitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung gezeigt haben. Das »Ressentiment der Eliten« speist sich jedoch nicht allein aus einem – wieder Amlinger und Nachtwey – »Aufbegehren der deklassierten Intellektuellen«. Hier kommt die tatsächlich singuläre Erfahrung des Lockdown, des staatlichen Ausnahmezustands im Angesicht einer Pandemie, zum Tragen. Das Stichwort dazu liefert, wohl unbeabsichtigt, der Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht.
In einem Essay für die Neue Zürcher Zeitung bemerkt er, dass »der Staat wieder in die Mitte unseres Lebens getreten« sei. Dass staatliche Eingriffe das Alltagsleben auf so direkte Weise einschränken, sei eine für die Menschen neue Erfahrung. Das ist zweifelsfrei richtig, in seiner Allgemeinheit jedoch falsch. Tatsächlich haben die meisten Gesellschaften des Globalen Nordens Staatlichkeit so eingerichtet, dass der Staat in seinem Alltagsgeschäft in ganz unterschiedlichem Maße im Leben seiner Subjekte präsent ist. Für gar nicht wenige Menschen tritt er permanent »in die Mitte des Lebens«: durch rassistische Polizeikontrollen etwa, in Form von Massenlagern, Aufenthaltstiteln oder Abschiebebescheiden, durch Einschränkungen bei Eheschließungen oder im Adoptionsrecht für gleichgeschlechtlich Liebende, als Arbeitsmarktservice, das bestimmt, welche Arbeitsstelle als »zumutbar« anzunehmen ist, in Form von Jugendschutzbestimmungen, als Gefängnis oder wenn das private Vermögen und Einkommen der Partnerin durchleuchtet wird, bevor die staatliche Mindestsicherung ausgezahlt wird. Eingriffe des Staates im Alltagsleben als absent wahrzunehmen, ist das Privileg bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Was die Maßnahmen des Lockdown so besonders und einzigartig macht, ist, dass sie tatsächlich alle Menschen gleichermaßen und ganz direkt betreffen. Auch und gerade jene, die das Privileg genießen, von staatlichen Eingriffen üblicherweise verschont zu bleiben. Nichts illustriert diese Tatsache so schillernd wie die ausgerechnet von Landesverbänden von AfD und FPÖ vorgebrachte Forderung nach »offenen Grenzen« und »Reisefreiheit« – für die Unsrigen als Touristen, versteht sich. Angesichts des katastrophalen Krisenmanagements der Tory-Regierung unter Boris Johnson stellte ein viral gegangener Tweet ironisch fest: »Endlich erfahren auch die Briten, wie es sich anfühlt, von den Briten regiert zu werden.« Daran angelehnt könnte man sagen: In der Pandemie erfahren auch die privilegierten Mehrheiten ein wenig davon, wie es sich anfühlt, zu jenen zu gehören, denen der Staat permanent ins Leben steigt. Im globalen Maßstab ist das übrigens die Mehrheit. Diese Erfahrung und das im Kern reaktionäre Begehren nach individueller Freiheit ohne Rücksicht auf andere scheinen weitere Quellen der gegenwärtigen Ablehnungskultur zu sein. 

Der subjektive Faktor

Als dritter Faktor muss schließlich das Handeln politischer Akteurinnen gezählt werden. Dabei ist zunächst festzustellen, dass es – anders als in fast allen anderen Politikbereichen – tatsächlich keine »linke« oder »rechte« Pandemiepolitik gibt. Die Konflikte um die Sinnhaftigkeit und Angemessenheit der Maßnahmen zogen sich von Beginn weg quer durch die politischen Lager. Für die notorisch zerstrittene Linke mag das nicht außergewöhnlich sein. Bemerkenswert ist aber, dass auch die gemeinhin instinktsicher agierende autoritäre Rechte in der Frage auseinanderfiel. Global landeten autoritäre Führer, zwischen die ideologisch sonst kein Blatt Papier passt, auf den äußersten Enden des Spektrums. Auf der einen Seite Figuren wie Jair Bolsonaro, der Covid-19 bis zuletzt als Grippe verharmloste, der sich das brasilianische Volk bloß mit ein wenig Manneskraft entgegenstellen müsse, oder Boris »Take It On The Chin« Johnson. Auch Donald Trump reiht sich hier ein, der die bewaffneten Aufmärsche gegen den Lockdown in den Hauptstädten mehrerer amerikanischer Bundesstaaten aufhusste, wenige Wochen bevor er Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt niederprügeln und -schießen ließ. Auf der anderen Seite wussten etwa Viktor Orbán in Ungarn oder Rodrigo Duterte auf den Philippinen die Krise zu nutzen. Weit entfernt davon, die Gefahr des Virus kleinzureden, setzten sie auf einen besonders drastischen Lockdown, weiteten ihre Exekutivgewalt aus und peitschten die Quarantänemaßnahmen mit scharfer Repression durch. Die FPÖ ist hier eine interessante Fallstudie, weil sie zunächst nicht recht wusste, in welche Richtung es gehen sollte. Sie rang in den ersten Wochen nach Ausbruch der Pandemie um eine Position. In den ersten Parlamentsdebatten unter Corona-Bedingungen reihten sich ihre Abgeordneten demonstrativ in den »nationalen Schulterschluss« ein. Herbert Kickl hatte nicht so sehr ein Problem mit Polizeihärte zur Durchsetzung der Quarantänemaßnahmen als damit, dass das nicht unter einem FPÖ-Innenminister (also ihm) geschah. Dafür erntete die FPÖ jedoch bald ungewohnten Gegenwind aus der eigenen Gefolgschaft. In den Kommentaren unter den Youtube-Clips von FPÖ TV und auf Facebook, wo sonst Claqueure ihren Führern huldigen, wandte sich die Stimmung gegen Kickl und Hofer: »Schluss mit der medialen Corona-Lüge«, »Masken sind Maulkörbe«, »Redet über Bill Gates und seine Verbrechen!«. Es ist zu vermuten, dass die Kehrtwende der FPÖ, die Aufkündigung des Schulterschlusses auch auf den Druck einer Basis zurückzuführen ist, die den paranoiden Affekt verinnerlicht hat, den die Partei ihrer Anhängerschaft über viele Jahre eingeimpft hat. Inzwischen versucht die FPÖ mit der Kampagne »Gegen den Corona-Wahnsinn« wieder auf der Welle der Ablehnungskultur zu reiten. Auch wenn sie damit in Umfragen bislang wenig erfolgreich ist, ist ihre Kurskorrektur nur konsequent – und längerfristig keineswegs automatisch zum Scheitern verurteilt. Spätestens wenn eine zweite Pandemie-Welle das Land erfasst, ist zu befürchten, dass die Rechtsextremen ernten werden, was sie derzeit säen. 

»DIE RADIKALE KRITIK LÄUFT GEFAHR, ZWISCHEN ZWEI FALSCHEN ALTERNATIVEN AUFGERIEBEN ZU WERDEN. AUF DER EINEN SEITE EINE VON VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIE UND RASSISTISCHEM RESSENTIMENT DURCHWIRKTE, KLASSENÜBERGREIFENDE ABLEHNUNGSKULTUR. AUF DER ANDEREN EINE STRUKTURKONSERVATIVE, MACHT UND ORDNUNG IM NAMEN DER VERNUNFT VERTEIDIGENDE ALLIANZ AUS KONSERVATIVEN, LIBERALEN UND LINKEN.«

Die Stunde der Experten

In der Corona-Krise schlug nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern auch jene der Experten. Binnen kürzester Zeit erlangte medizinisches Fachwissen den Rang nationaler Staatsraison. Aus guten Gründen folgten die Regierungen in Österreich und Deutschland den Empfehlungen der einschlägigen Fachleute – fast immer waren es Männer – und richteten staatliche Maßnahmen nach ihnen aus. Bei aller berechtigen Kritik an der intransparenten Zusammensetzung der Expertengremien – Tamara Ehs beleuchtete die damit verbundenen demokratiepolitischen Gefahren in ihrem Corona-Glossar in TAGEBUCH N° 6 – konnte so eine Überforderung der Gesundheitssysteme und ein Massensterben wie in Norditalien, Spanien oder Großbritannien vermieden werden. Zugleich fächerte sich das Expertenwissen in der öffentlichen Wahrnehmung bald rasant auf. Virologische Expertise, so lernten wir, ist nicht das gleiche wie epidemiologische, eng auf das Virus fixierte Perspektiven kollidierten mit modellbildenden mathematischen, statistische mit medizinischen Wissensregimen und diese mit umfassenderen Public-Health-Ansätzen. Der außergewöhnliche Moment, in dem politische und ökonomische Rationalitäten kurzfristig in ihrer Dominanz im staatlichen Handeln herausgefordert wurden, war von kurzer Dauer und stellt eine vergebene Chance dar. Er hätte die Möglichkeit geboten, gesellschaftlich diskutabel zu machen, dass selbst evidenzbasierte »Hard Sciences« keine unzweideutigen Anleitungen anzubieten vermag. Nur kurz blitzten Lernmomente auf, etwa als der Public-Health-Experte Martin Sprenger aus der Corona-Taskforce der österreichischen Bundesregierung ausschied und öffentlich seinen Dissens zur dortigen Mehrheitsmeinung ausdrückte, die aus seiner Sicht die mittel- und langfristigen Folgen der Quarantäne-Maßnahmen auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigte. Ungeachtet dessen, ob und inwieweit Sprengers Kritik treffend ist oder nicht – das ist ohne einschlägige Expertise und Einblick in die Datenlage schlicht nicht zu beurteilen –, hätte das die Möglichkeit geboten, ein differenziertes Verständnis der gesellschaftlichen Rolle von »Expertenwissen« in die Öffentlichkeit zu tragen. In Deutschland hätten die abweichenden Ergebnisse etwa aus der Forschergruppe des Bonner Virologen Hendrik Streeck ähnliches Potenzial geboten. Das geschah nicht. Stattdessen verblieb die Debatte weitgehend in binären Codes: Hört man auf die Experten oder nicht? Wer hat recht und wer liegt falsch (oder lügt gar)?

Den Wert virologischer Expertise in der Pandemie verkörperte niemand so populär wie Christian Drosten, Institutsdirektor der Berliner Charité und Spezialist für Corona-Viren. Er beriet nicht nur die deutsche Bundesregierung, sondern wirkte als Pionier in Sachen Wissenschaftskommunikation über seinen immens erfolgreichen Podcast direkt in die wissbegierige Öffentlichkeit. Regelmäßige Hörerinnen und Hörer erwarteten die alle paar Tage erscheinenden Folgen als Fanbase. Die Kombination aus Fachwissen, Eloquenz und wissenschaftlicher Redlichkeit, die es ihm zur Verpflichtung machte, einmal getroffene Aussagen im Lichte neuer Evidenz zu revidieren und Sachverhalte uneitel neu zu bewerten, brachte ihm zu Recht höchsten Respekt ein. Sein souveräner Umgang mit Angriffen der Bild-Zeitung, dieses Organs der Niedertracht, auf seine Person (»Ich habe Besseres zu tun«) trug weiter zu seinem Status als Held der Vernünftigen bei. In sozialen Medien bildeten sich halb ironische Gruppen von Drosten-Ultras. All das, es sei noch einmal gesagt, aus guten Gründen. Und doch: Wo die Autorität wissenschaftlichen Wissens auf eine Ablehnungskultur trifft, sind Verwerfungen die Folge – auf beiden Seiten des falschen Antagonismus. Für Corona-Leugner in Deutschland wurde Drosten zur zweiten Hassfigur neben Bill Gates. In Berlin tauchten Aufkleber auf, die sein Konterfei neben jenem Josef Mengeles abbildeten. Auf der anderen Seite trieb der Drosten-Hype weniger abscheuliche, aber doch schräge Blüten. Auf Twitter fragte der CDU-Politiker Ruprecht Polenz ganz im Ernst: »Wo ist der Ökonomie-Drosten?« Neutrale Expertise, wie sie der Virologe zur Pandemie-Bekämpfung liefert, müsse nun auch zur Bewältigung der Wirtschaftskrise in Anschlag gebracht werden. Hier zeigt sich, wie ein einmal in die Welt gesetztes Denkmuster leichtfüßig das Register wechseln kann. Soziale Fragen werden der Aushandlung entzogen, Interessengegensätze geleugnet, die kommenden Kämpfe um die Umlage der Krisenkosten falscher Objektivität im Sinn der Herrschenden überantwortet. 

Der tote Vogel im Schacht

Auch treibt die Corona-Krise lange bestehende Tendenzen auf die Spitze. Das Bemühen, wesentliche soziale Fragen dem demokratischen Prozess zu entziehen und ausgewählten Zirkeln sogenannter Experten zu übertragen, ist seit Jahrzehnten Strategie der politischen Vertreterinnen des Groß- und Finanzkapitals. Die neoliberalisierte Ex-Sozialdemokratie unter Blair und Schröder verkaufte ihre menschenfeindliche Politik schon in den 1990er Jahren als »evidenzbasierter« Expertise folgend und ergo alternativlos. Nach dem globalen Crash der Finanzmärkte 2008 wurden Regierungen, die dem Dogma der Austerität nicht rigide genug folgten, kurzerhand durch »Expertenregierungen« ersetzt. So in Tschechien 2009, in Italien und Griechenland 2011. Kapitalistische Staaten, darauf wies zuletzt etwa der Politikwissenschafter Alexander Gallas unter Rückgriff auf den marxistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas hin, verfestigen die Macht der Eliten, indem sie auf die Apparate eines »wissenschaflich-intellektuellen Korps« zurückgreifen. Das an Universitäten, in Akademien und Thinktanks ausgebildete Wissen verkleidet die Interessen des Kapitals als neutral-objektive Expertise und immunisiert es so gegen Kritik. Der gegenwärtige Einbruch des medizinischen und epidemiologischen Paradigmas in die Politik droht diese im Kern autoritäre Logik noch tiefer in der Gesellschaft zu verankern – und die Kritik daran den anderen Autoritären, den Corona-Leugnern, den regressiven Rebellen zu überlassen. Radikaler Kritik droht dann nicht nur, wie Florian Mühlfried (siehe Seite 10) ganz richtig bemerkt, das Misstrauen abhandenzukommen. Sie läuft auch Gefahr, zwischen zwei falschen Alternativen aufgerieben zu werden. Auf der einen Seite eine von Verschwörungsideologie und rassistischem Ressentiment durchwirkte, klassenübergreifende Ablehnungskultur. Auf der anderen eine strukturkonservative, Macht und Ordnung im Namen der Vernunft verteidigende Allianz aus Konservativen, Liberalen und Linken. Die Perspektive einer Welt jenseits des Wahnsinns kapitalistischer Akkumulation fällt dann vielleicht als erste der veränderten gesellschaftlichen Atmosphäre zum Opfer. Aber nur wie der tote Vogel im Schacht, der anzeigt, dass die Luft bald allen ausgeht.

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