»Lest dies zu meinem Gedächtnis: Die Tinte wurde zu meinem Wehrsekret.«
Helena Adler: »Fretten«
»Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.« Mit dieser Aufforderung beginnt Helena Adlers Roman Die Infantin trägt den Scheitel links von 2020, der Leser:innen und Kritiker:innen gleichermaßen begeisterte und der Autorin einen frühen Durchbruch bescherte. Adlers Imperativ ist der einer studierten Malerin. Dass die 21 Kapitel die Namen von Gemälden bzw. Bildern tragen – ebenso wie die 21 des 2022 erschienenen, noch grandioseren Nachfolgers Fretten –, ist keine Koketterie, sondern Ausdruck einer Poetologie, die explizit im Bildlichen gründet. Adlers autofiktionale Romane versetzen ihre Protagonistin, die Infantin, »in das animierte Bruegel-Panorama, das meine Welt ist, meine Welt immer schon war«. Die Infantin bewegt sich durch diese Panoramen im epischen Präsens. Auch wenn hier also eine Geschichte erzählt wird – Kindheit, Adoleszenz und Mutterschaft einer »zornigen Bauerstochter«, die sich am »Idiotismus des Landlebens« (Marx/Engels) abmüht und aufreibt –, so breitet sich diese Geschichte weniger in der Zeit als vielmehr im Raum aus. Sie gleicht einer Bilderfolge mehr als einer romanesken Erzählung.
Sprache als Bild
In Bruegels Gemälden wimmelt es von Leben und Tod, von Hedonistischem und Abgründigem. Adler übersetzt diesen malerischen Exzess in eine überbordende bildliche Sprache, in der es in jedem Satz so viel zu sehen gibt wie in einem Gemälde. Dafür bedient sie sich ostentativ des rhetorischen Instrumentariums: wuchernde Metaphorik, Sätze, die sich mehr an Alliterationen und Assonanzen entlanghanteln als einem Erzählstrang – und vor allem Paronomasien, deren Abwertung als »Kalauer« jene fatale Verdinglichung wiederholt, von der sie (kritisch gewendet) zu berichten wüssten. Denn gerade im flachsten Witz, das wusste schon der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler an Nestroy aufzuzeigen, ist – »kurz und scherzlos« – die Spur dessen zu erkennen, was platt getreten wurde. Elfriede Jelinek, deren Kinder der Toten in Fretten auch intertextuell aufblitzen, steht in neuerer Zeit für das literarische und heuristische Potenzial einer solchen Dekonstruktion verdinglichter Sprache, wie sie die Infantin beschreibt: »wir zerhäckselten die Sprache der Phrasendrescher«.
Solcherart stechen Helena Adlers Texte aus dem »populären Realismus«, welchen der Literaturwissenschafter Moritz Baßler der Gegenwartsliteratur attestiert, heraus wie ein Arm aus einem Sumpf. Hier wird keine Tiefe vorgespiegelt, sondern alles an die Oberfläche gezerrt. Statt eines routinierten Plots herrscht diskontinuierliche Bildlichkeit. Statt Identifikationsangeboten barock anmutende sprachliche Hypertrophie. Trotz ihrer Kürze sind Die Infantin trägt den Scheitel links und Fretten keine leicht verdauliche Lektüre zum Sich-kultiviert-Fühlen – sie sind »leichte Beute, aber schwere Kost«.
Existierzorn
Aus all dem spricht ein Einspruch gegen den Tod, der sich gerade aus dessen permanenter Präsenz im Text speist. Keine Lebensfreude, sondern Überlebensgier – Verachtung der Vergänglichkeit, insbesondere der eigenen. Die Kapitel zum Tod der Urgroßeltern in Die Infantin trägt den Scheitel links – betitelt mit den Bruegel-Bildern Tod eines Helden und Triumph des Todes – sowie jenes zur Geburt des eigenen Sohnes in Fretten – benannt nach Courbets Der Ursprung der Welt – mögen bezeugen, wie Adlers Sprachgewalt sich in ihrer Todesverachtung vitalistisch auflädt.
Von daher ist der Lektüre-Irrtum, welchen die Publikation dreier nachgelassener Texte unter dem Titel Miserere im Sommer 2024 trotz begleitender Refutation hervorrief – jener nämlich, dass Adler gegen den eigenen Hirntumor anschrieb –, gegenstandslos. Denn auch wenn die Texte vor Adlers Krebsdiagnose im Juni 2023 entstanden, streut das Motiv des Todes seine unannehmbaren Metastasen quer durch Adlers Werk. So attestiert sie ihrer Infantin bereits in Fretten: »Eine Wucherung, sagte man, Tumor im Thorax. Ein Tumor, der hinterrücks rumorte, an der Wirbelsäule versteckt, dort wo ich ihn, den Watzelwurm, nicht sehen, nur spüren konnte, eine Verflechtung, die sich dornig um meinen Rosenstab flankte. Er schnürte mein Korsett, bis mein Rumpf eine organische Sanduhr sein würde, lähmte mich, dass ich lahmte, nichts bewegte sich, außer dem Parasiten, der mir auf den Lebensnerv ging und drückte, bis mir dauerhaft schwindlig wurde. Bald würde er sich meines letzten Halts bemächtigen: der Sprache.«
Hat er aber nicht. Adlers Sprache kann kein Tumor zerstören, denn sie ist Gewebe anderer Art, nämlich Text. Und in ihren textlich animierten Bruegel-Gemälden wird man sie in all dem Wirrwarr immer irgendwo finden: »Und ich? Ich befinde mich mittendrin und bin nichts weiter als die Berichtbestatterin meiner Gegenwart. Das frische Blut in meinen Adern sei der rote Faden in meinen Geschichten und die Röte in eurem Gesicht. Mehr als ums Überleben, die Welkwehmut und den Existierzorn geht es nicht. Und wem der Sinn nach etwas anderem steht, der erblinde an diesem Text, der verschlucke sich an seiner eigenen Zunge, der erhänge sich am fehlenden Handlungsstrang und folge in gerader Linie dem kurzen Prozess von Leben und Tod.«
Das Salzburger Literaturhaus verleiht dieses Jahr zum ersten Mal den in ihrem Andenken gestifteten Helena-Adler-Preis für rebellische Literatur.
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