Wenn ich in meinen oberösterreichischen Herkunftsort komme und nach meinem Wohnsitz gefragt werde, dann fährt so manchem Entsetzen ins Gesicht: »Oh Gott, Wien«, »Fürchtest du dich nicht?« Die Vorurteile sind mit den Jahren zwar schwächer geworden, aber sie führen ein erstaunlich fröhliches Eigenleben, sind jederzeit abruf- und politisch instrumentalisierbar. Landesgrenzen und der Großstadt-Land-Gegensatz spielen eine erhebliche Rolle. Mag das Gefühl von Zusammenhalt, ein Österreich-Gefühl heute dominieren, so haben Furcht, Abneigung und Argwohn noch immer unterschwellig eine erstaunliche Kraft. Der traumatische Moment, als 1918 Wien und die heutigen Bundesländer plötzlich zu einem Staat zusammenfinden mussten, ist offensichtlich nach wie vor gespeichert. Das Match schwarzer Bund (in verschiedenen Varianten) gegen rotes Wien scheint, nach längerem Schlummern, wieder an Dynamik gewonnen zu haben.
Der Innenminister möchte, so verlautbarte er zuletzt vehement, Polizisten für das Tracing von Corona-Patienten in Wien ausschicken. Die Integrationsministerin springt ihm bei und macht in Wien »signifikant viele Fälle in Flüchtlingsheimen« aus. Dass Wien bisher, im innerösterreichischen Vergleich und auch im internationalen Großstädtevergleich, die Epidemie gut überstanden hat, lässt die türkise Ministerriege unerwähnt. Es wirkt so, als hätte dieser Teil der Regierung bloß auf den Augenblick gewartet, um das internationale Fiasko von Ischgl vergessen zu lassen. Denn nicht auf dem Höhepunkt der Epidemie – zu diesem Zeitpunkt hatte Wien erstaunlich gute Zahlen vorzuweisen –, sondern erst im Ausklingen der Corona-Krise, wird der Blick auf die Wiener Statistiken gelenkt.
Der »Wasserkopf«
Wir erinnern uns, dass Wien in der Zeit der verflossenen türkis-blauen Regierung besondere Aufmerksamkeit erhielt. Kurz und Strache führten eine virtuos orchestrierte Kampagne gegen die »luxuriöse« Mindestsicherung, die »soziale Hängematte«, die Wien so attraktiv mache. Als Vorbilder wurde das in Ober- und Niederösterreich beschlossene Downgrading gepriesen. Sebastian Kurz verstieg sich zur Behauptung, dass in immer mehr Wiener Familien nur noch die Kinder in der Früh aufstehen würden. Der Verfassungsgerichtshof kippte zwar die Ländergesetze, aber die erfolgreiche Stimmungsmache war ohnehin wichtiger als die Frage der Unterstützungsleistungen.
Erstaunlich am aktuellen Wien-Bashing ist, wie viele Ressentiments gegen die Bundeshauptstadt im Bedarfsfall mobilisierbar sind, auf welch einfachen Nenner sich die komplizierte Realität des 21. Jahrhunderts vor der politischen Öffentlichkeit mit Gewinn herunterrechnen lässt. Da die sozialdemokratische (jetzt rot-grün) regierte Großstadt, dort die schwarz regierten Länder. Da die »Zuagrasten« in den Parallelgesellschaften mit den wenig integrationswilligen Migrantinnen, dort die tüchtigen Österreicher in der unverfälschten Heimat. Da die Sozialdemokratie und ihr Mai-Aufmarsch, dort die bewährte ländliche Tradition. Da die Wohnungsmieter, dort die fleißigen Häuslbauer.
Im Kontrast dazu: Die reale Entwicklung ebnet die Stadt-Land-Gegensätze ein. Die Zersiedelung frisst die Dörfer auf und reißt die alten Besiedlungsgrenzen nieder. In fast jeder Gemeinde finden sich Zugewanderte als lebendiger Beweis, dass Österreich eine Einwanderergesellschaft geworden ist. In den Dörfern bricht eine junge Generation massenhaft auf, um in den Städten zu studieren. Im neuen Kulturleben, das mittlerweile mehr Menschen beschäftigt als die Landwirtschaft, verschränken sich die urbanen und agrarischen Zonen. Die Pendlerströme fließen täglich. Nicht mehr einzig die Städte sind gottlos, auch auf dem Land ist der gelebte Katholizismus zu einem Minderheitenprogramm geworden. Und trotzdem lässt sich die alte Animosität gegen Wien bedienen, wird das Bild von der attraktiven Großstadt (Shopping, Tourismus, Bildung, Kultur) überschrieben vom Klischee des gefährlichsten Ortes in Österreich (Kriminalität, Flüchtlinge, Drogen).
Die Urszene dieses Konflikts spielt in den Jahren 1918 bis 1920. In der Monarchie sah nicht nur die deutschsprachige Bevölkerung im habsburgischen Wien den geistigen, politischen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Reiches, der der Stadt immer neue Zuwanderer zutrieb. Wien, das war der gute Markt, zahlungskräftiges Publikum inklusive; Konsumort von zwei Millionen Menschen, von dem viele Produzenten im gesamten Habsburgerreich gut leben konnten. 1918 verkehrte sich diese Rolle ins Gegenteil. Wien mutierte zum Moloch, der den anderen Nachfolgestaaten des aufgelösten Reiches im Weg stand und den Bundesländern des neuen Deutsch-Österreich die Lebensmittel (die nirgendwo im Überfluss vorhanden waren) wegnehmen wollte. Die Stadt, die die Bauern daran hinderte, zum besten Schwarzmarktpreis zu verkaufen, »die gehasste Stadt«. Wien, einst Krone des Imperiums, war nun sein Überbleibsel, »Los von Wien« die Parole der Stunde.
In diesem Spannungsfeld prallten die wirtschaftlichen Interessen zwischen den Bundesländern und Wien, zwischen den Agrargebieten und der Stadt, in aller Heftigkeit aufeinander. Volkswehr, Arbeiter- und Soldatenräte wollten mit Maßnahmen gegen den Lebensmittelschmuggel, den »Wucher«, auftreten, weil der staatliche Ankauf zu den amtlich festgesetzten niedrigeren Preisen nur beschränkt funktionierte. Sie versuchten den Schwarzmarkt, der den Bauern viel Geld, den Lieferanten einen einträglichen Beruf versprach, mit administrativen Maßnahmen zu unterbinden. Wiener Sommergäste, die traditionell im Juli und August Geld aufs Land brachten, wurden in den Bundesländern nun als »lästige Mitesser« erachtet – als Leute, die den Einheimischen den Bissen vom Munde wegnahmen. Die sogenannte Provinz erwies sich als außerordentlich findig darin, sich in administrativen Absperrmaßnahmen und politischen Sezessionsbestrebungen von der verarmten Bundeshauptstadt abzusetzen. Wien wurde zum Parasiten stilisiert, der, ohne zu arbeiten, von den Ländern zehren wollte. Nie hätte, so hörte man allseits, ein Staat von sechs Millionen Einwohnern eine Hauptstadt von zwei Millionen hervorbringen können. Wien bekam das Etikett »Wasserkopf« umgebunden.
Das hungernde Wien
Zu den wirtschaftlichen Spannungen und kulturellen Unterschieden kamen die politischen Gegensätze. Die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung und die Landtags- und Gemeinderatswahlen im Frühjahr 1919 stellten die politische Welt in Österreich auf den Kopf. Schon die Wahlkämpfe waren von einer starken Polarisierung begleitet. Noch hofften die Christlichsozialen, eine absolute Mehrheit der Sozialdemokraten in Wien zu verhindern. Aber die Ergebnisse waren eindeutig. Die Sozialdemokratie fuhr in Wien einen großen Sieg ein, die bis 1918 absolut regierenden Christlichsozialen sackten auf 22,3 Prozent ab, die deutschnationalen Parteien wurden zu Kleinparteien reduziert. Nie mehr war bei demokratischen Wahlen eine absolute oder relative sozialdemokratische Mehrheit gefährdet.
Das hungernde Wien war eine Stadt im Aufruhr, immerhin bestand im Frühjahr 1919 die Möglichkeit, dass sich eine geographisch zusammenhängende Kette von Räterepubliken von Budapest bis München bildete und der revolutionären Furor auch in Wien zündete. Die österreichische Koalitionsregierung versuchte mit einer Reformpolitik (Arbeitslosengesetz, Kriegsinvalidengesetz) die Versuchung abzuwehren. Auch nach dem Zusammenbruch der Räterepubliken erst in München, dann in Budapest, war das Revolutionspotenzial lange nicht beseitigt, wie sich später am Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 zeigen sollte. Das Rote Wien wollte und konnte der Metropole des Elends mit einem großen Wohnbauprogramm, mit einer offensiven Bildungs- und Fürsorgepolitik eine Perspektive geben.
Den »roten Anstrich herunterkratzen«
Den politischen Nachfahren des erfolgreichen Bürgermeisters Karl Lueger wurde klar, dass sie in ihrer alten Hochburg zur ungeliebten Oppositionsrolle verdammt sein würden. Mit allen verfügbaren Vorwürfen zogen sie gegen die rote Mehrheit in die Schlacht. Die schlechte Versorgung wurde gegen die neue Stadtverwaltung verwendet, die Agitation gegen die geschickte Steuerpolitik des Roten Wien schraubten sie zum »Steuersadismus« hoch. Die Verantwortung für die Misere Wiens wurde verschoben: Die Sozialdemokraten, die Juden und die Republik seien an Hunger und Kälte schuld. Im Antisemitismus überschritt die christlichsoziale Stadtpartei die bis dahin üblichen Grenzen und forderte Wohnungskündigungen, die Errichtung von Konzentrationslagern oder die Einführung des Numerus clausus an den Universitäten. Auf die Frage »Gibt es für Wien noch eine Rettung?« lautete die Antwort »Nein«. Wien mache Österreich zur Räterepublik, oder, wie Leopold Kunschak meinte, zum »Bolschewistenstaat«. Nach dem Wahlsieg auf Bundesebene im Oktober 1920 kündigte der starke Mann der Partei, Ignaz Seipel, den nächsten Schritt in der österreichischen Politik an: den »roten Anstrich von Wien herunterkratzen«. Das Rote Wien schaffte es nie, als soziale Versuchsstation, als Großstadt, die sich aus Armut und Verwahrlosung befreien konnte, auf Bundesebene Anerkennung zu finden, da nutzte auch die weltweite Vorbildwirkung nichts.
Noch gab es keine roten Bundesländer. Die Mehrheiten waren eindeutig und entsprechend die Abneigung der Länder gegen eine leidende, sich quälende Großstadt. Die Mobilisierung gegen Wien war populär. Die proföderalistische Propaganda pochte auf das »Selbstbestimmungsrecht« der Länder und argumentierte damit, dass die Länder früher dagewesen wären als der Staat Österreich. Die Debatte um die Verfassung, die vorerst wenig Konfliktstoff versprach, weil sich alle Parteien weitgehend einig waren, dass Österreich als föderaler Bundesstaat konstruiert werden sollte, wurde plötzlich als Kampf gegen Wien zum vorherrschenden Thema der österreichischen Politik hochgefahren, um die politische Dominanz der Sozialdemokraten (Sozialgesetzgebung, Sozialisierung, Habsburgergesetze, Heeresverfassung) zu stören und (auf Bundesebene 1920 erfolgreich) zu beseitigen.
Die Polarisierung brachte und bringt freilich für beide Seiten Nutzen. Auch für die sozialdemokratische Mehrheitspartei in Wien. Bereits in der Ersten Republik bewirkte die Kampagne gegen das Rote Wien, dass die Zustimmung bei Wahlen in der Stadt immer größer wurde. Die Gemeinde- und Genossenschaftsbauten und die Sozialeinrichtungen, die im Laufe einer hundertjährigen Geschichte gebaut wurden, sind populär wie eh und je. Ein Wahlkampf, der auf dieses große Erbe verweist, überstrahlt manche Schwäche.
Bedenkenswert ist, dass der rechte Populismus der vergangenen Jahre Politiker aus Wien in die große politische Arena bugsiert hat, die sich mit lautstark vorgetragenen Aversionen gegen Wiener Verhältnisse Bekanntheit und Beliebtheit in der politischen Szene erarbeitet haben. Ihre rhetorisch perfekte Performance, die Typen aus der Alt-Wiener Volkskomödie (Strizzi, Selbstdarsteller) wiederbelebt, hat erstaunlicherweise gerade auf dem Land funktioniert. Politiker aus den Bundesländern haben derzeit in der ersten Reihe ausgedient. Es war während der Corona-Krise eigentlich unverständlich und bizarr, dass die Regierung das Betreten der Bundesgärten nicht nur im Corona-Hotspot Innsbruck, sondern auch gleich in Wien sperrte. Bei der Bevölkerung in der Bundeshauptstadt kam das nicht gut an, aber bei der in den Bundesländern (wahrscheinlich) sehr wohl. Die Stimmungsmache gegen das übermütige Wien, das in den Parks und Grünräumen nach Luft und Leben giert und gar zu Zehntausenden bei einer Demonstration gegen rassistische Polizeipraxen auf die Straße geht, lässt sich immer gut und gern anwenden.
Zuwandererstadt
Damals wie heute leitete sich das wirkungsträchtigste Argument gegen Wien von der Zuwanderung her. Schon vor 100 Jahren war Wien eine Zuwandererstadt. Sie ist es auch heute. In einer Dekade sollen an die zwei Millionen Einwohner hier leben. Die, die gegen »Überfremdung«, »Umvolkung« und »Parallelgesellschaften« agitieren, verkennen, dass und wie Wien und Österreich insgesamt von Zuwanderern profitieren. Das hat sich zuletzt während der Corona-Krise deutlich gezeigt, als man mit allen Mitteln versuchte, Pflegekräfte ins Land zu bringen oder Erntehelferinnen einzufliegen. Dabei stand und steht Wien unter besonderem Verdacht, Zuwanderung zu fördern, Zuwanderer mit Sozialhilfe zu verwöhnen und nicht genug Druck auszuüben, um deren sprachliche und kulturelle Anpassung zu erzwingen. Was vor 100 Jahren Juden und die Wiener Tschechen waren, das sind heute alle Zuwanderer und vor allem Muslime. Das Wien-Bashing nährt die Illusion, dass es ein ethnisch homogenes Land überhaupt geben könnte. Dass »Integration« dauert, dass sie jede Menge Probleme mit sich bringt, dass sie kein multikulturelles Honigschlecken, sondern ein kompliziertes Wechselspiel zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten ist, wird gern verdrängt. Der rechte Populismus hat negative Ansichten über die Integration in allen Generationen und Bevölkerungsschichten fest etabliert, dabei gäbe es durchaus eine 150-jährige Erfolgsgeschichte zu feiern.
Der tägliche Stau, das Krankenhaus Nord
Wenn ich in meine oberösterreichische Herkunftsgemeinde komme, wissen auffallend viele Leute ausgiebig Bescheid über Konflikte, Probleme und bisweilen stockende Projekte in der Bundeshauptstadt. Über die eigenen regionalen Komplikationen und die mehr als zweifelhaften Entwicklungen (etwa über die Verödung der Dörfer und die sich rapide ausbreitende Bodenversiegelung, über die märchenhafte Vermehrung der Einkaufszentren, über die greifbaren Folgen der industriellen Landwirtschaft oder über die täglichen Staus auf den übervollen Straßen) wollen und können sie weniger sprechen als über die neue Mariahilfer Straße, über das Krankenhaus Nord, über »Ausländer«-Schulen und Parallelgesellschaften in Favoriten, über die Hochhausplanung am Eislaufplatz oder die Überschreitung der Kosten beim Neubau eines Flughafen-Terminals. Dass die Mehrheit der Wienerinnen und Wiener ihren Lebensmittelpunkt mit keinem anderen Ort tauschen möchte (genauso wenig wie die Mehrheit der Menschen in meiner Herkunftsgemeinde den ihren), dringt da wenig durch.
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